Weiße Rentierflechte
Im Norden Sibirens lebt seit jeher das Volk der Nenzen. Leben und Kultur der nomadischen Rentierzüchter werden jedoch immer mehr bedroht durch die neue Zeit und die gesellschaftlichen Veränderungen. Das ist auch Thema des Romans der nenzischen Autorin Nerkagi: Sie erzählt vom jungen Aljoschka, dessen große Liebe Ilne in die weit entfernte Stadt gezogen ist. Er widersetzt sich den Traditionen seines Volkes und möchte keine andere Frau heiraten, was für seine Mutter und die Nachbarn ein eklatanter Bruch der Traditionen ist, die den Fortbestand der nenzischen Kultur und Identität garantieren. Und da ist der alte Petko, Vater Ilnes, der von seiner Tochter alleingelassen wurde und nun auf die Hilfe seines Freundes Wanu angewiesen ist. Und schließlich Chassawa, einst ein erfolgreicher Rentierzüchter, den die Machenschaften eines russischen Verwalters und die Gier seiner Kinder in den Ruin getrieben haben. - Mit einer ebenso klaren wie poetischen Sprache schreibt Nerkagi über das entbehrungsreiche, aber dennoch erfüllte Leben der Rentierzüchter in Nordsibirien, ihre Werte, ihren Glauben und ihre Weltanschauung, aber auch darüber, wie der unselige Einfluss einer neuen Zeit diese seit Jahrhunderten gut funktionierende Kultur zutiefst bedroht. Ein Roman, der trotz seiner knapp 163 Seiten dem Leser eine ganz neue Welt erschließt und ganz gewiss ein Stück Weltliteratur ist. Dieses Buch muss man gelesen haben.
Günter Bielemeier
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Weiße Rentierflechte
Anna Nerkagi ; aus dem Russischen von Rolf Junghanns
Unionsverlag (2024)
179 Seiten
kt.