Wald aus Glas
Der Schnee kam früh in diesem Jahr, im September schon. Auf einer Lichtung im Salzburger Land findet ein Spaziergänger die Leiche einer alten Frau. Zur gleichen Zeit stolpert in einer verlassenen Wohnwagensiedlung im schweizerischen Suhr eine nicht mehr ganz junge Frau geradezu über ein Mädchen, das fast totgeschlagen am Boden liegt. Es schneit, als die Sanitäter sie wegtragen. Im Folgenden werden die Lebensgeschichten der beiden Frauen in jeweils abwechselnden Kapiteln aus deren Perspektive aufgerollt. Beide Frauen fühlen sich fremd und machen sich auf den Weg "nach Hause". Roberta büxt, gut vorbereitet mit Wanderschuhen und Zelt, aus dem Schweizer Altenheim aus, um in das Land ihrer Kindheit zurückzukehren, nicht ohne vorher ihren Hund Prinz aus dem Tierheim zu befreien. Sie nutzt die Reise zu einer Begegnung mit ihrer Vergangenheit. Ayfer flieht eher spontan im Gepäckfach eines Touristenbusses aus dem Hotel ihres Onkels in der Türkei, um zu ihrem Freund Davor in der Schweiz zurückzukehren, wo sie aufgewachsen ist. Es gibt viele Parallelen zwischen den zwei Frauen: Beide emanzipieren sich durch ihren Schritt aus einer Bevormundung durch andere, und beide erkennen im Laufe der Reise, dass ihre Motive nicht unbedingt die richtigen waren. - Der in Irland und Suhr lebende Autor (Jg. 1957) von Theaterstücken, Hörspielen, Gedichten und Romanen (zuletzt "Cowboysommer": BP/mp 10/657) ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Sein stimmungsvoller, leiser Roman erzählt vom Wert des Aufbruchs, auch (oder gerade) angesichts des Risikos zu scheitern. Allen Büchereien empfohlen.
Karin Blank
rezensiert für den Borromäusverein.
Wald aus Glas
Hansjörg Schertenleib
Aufbau (2012)
285 S
fest geb.
Auszeichnung: Roman des Monats