Nackt in die DDR

Willi Sitte gilt als einer der bedeutendsten Maler der DDR. Er wird unterschiedlich eingeschätzt, vor allem weil er lange Jahre Leiter des Künstlerverbandes und Politbüromitglied war. Der Autor geht dem Lebensweg seines Urgroßonkels nach und beginnt Nackt in die DDR mit seinen Recherchen bei den noch lebenden Verwandten und der frühen Familiengeschichte. Die Sittes waren Kommunisten in der damaligen tschechoslowakischen Republik, von wo aus Willi Sitte an eine NS-Kunstschule kam und Teppiche für die Reichskanzlei fertigte. Die meisten Familienmitglieder konnten nach 1945 in die sowjetisch besetzte Zone emigrieren. In den 60er Jahren kämpfte Willi Sitte um künstlerische Freiheit jenseits des verordneten sozialistischen Realismus, näherte sich aber in den folgenden Jahrzehnten der sich zeitweilig lockernden staatlichen Kunstanschauung an, bis er in politische Ämter berufen wurde, obwohl er zu diesem Zeitpunkt mit einer Vielzahl von Systemkritikern befreundet war. Hat er sie geschützt und seinen politischen Einfluss für sie geltend gemacht? Dafür hat der Autor unterschiedliche Stimmen von Betroffenen zusammengetragen. - Das Buch zeigt eine schillernde Persönlichkeit jenseits von Schwarz-Weiß-Malerei. Es lässt ebenso erkennen, wie groß der Abstand der um die Jahrtausendwende Geborenen bereits zum Phänomen des sozialistischen zweiten deutschen Staates ist; aber auch, wie sehr manche vor der Wende Geborene die damalige Epoche verdrängen. Diese subjektiven Splitter sind vielleicht lesenswerter als die Aussagen zum sozialistischen Kunstverständnis, auch wenn sich Westeuropäer die staatliche Gängelung in diesem Bereich kaum vorstellen können.

Pauline Lindner

Pauline Lindner

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Nackt in die DDR

Nackt in die DDR

Aron Boks
HarperCollins (2023)

398 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 751298
ISBN 978-3-365-00310-7
9783365003107
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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