Hört endlich auf damit, nur "betroffen" zu sein

Mit dem Missbrauch in der katholischen Kirche muss es ein Ende haben und deshalb muss das ganze System der Kirche auf den Prüfstand, weil es sich nicht um individuelle Verfehlungen handelt. Für diese radikale Kehrtwende sieht der Autor zuerst die Hört endlich auf damit, nur "betroffen" zu sein Bischöfe in der Verantwortung, die nach einer Pause und Zeichen, die das Ende des Bisherigen markieren könnten, entsprechende Veränderungen anstoßen sollten. Der Autor begründet seine These konzentriert auf 140 Seiten und findet deutliche Worte für die aus seiner Sicht längst überfällige Wahrnehmung der Führungsrolle der Bischöfe. Als Priester, Therapeut für Psychotraumatologie und selbst Betroffener eines sexuellen Übergriffs, beschreibt und bewertet er das Thema aus verschiedenen Perspektiven. Der Autor zitiert u.a. eine französische Untersuchungskommission, die die Kirche als "Welt des Sadismus, des Irrsinns und der Perversionen" beschrieb (S. 17) und die dadurch "Verrat am Evangelium" (S. 105) begeht, wenn sie Missbrauch zulässt. Während es Jesus um die Menschen ging, würden aktuell durch die Kirche Identitäten zerstört. Ein Krisenmanagement, das nur eine bischöfliche Betroffenheitsrhetorik hervorbringt, ändere an den eigentlichen Problemen nichts, so der Autor. Beispiele von Betroffenen und eigene Erfahrungen des Autors sprechen die Emotionen der Lesenden an, dessen sollte man sich bewusst sein. Aber ohne diesen Schritt des Sich-Berühren-Lassens wäre die Einsicht für weit radikalere systemische Veränderungen kaum erreichbar. Die im letzten Kapitel zusammengefassten Handlungsimpulse, die sich nicht nur an die Bischöfe richten, stellen konkrete Forderungen zur Diskussion: Von der Notwendigkeit, konsequent die Opferperspektive einzunehmen und ein gesünderes Verhältnis zur Sexualität zu entwickeln bis zur Forderung nach postklerikalistischen Strukturen in der Kirche. Alle diese Themen werden zwar auch bereits im Synodalen Weg diskutiert, doch sieht der Autor eine Lösung des fortdauernden Problems nur in beherztem, sichtbaren, gemeinsamen und radikalem Handeln der Bischöfe statt in einer Strategie der kleinen Schritte. Wer sich mit den systemischen Gründen für den Missbrauchsskandal auseinandersetzen und mehr zu den verheerenden Folgen von Traumatisierungen bei Missbrauchsbetroffenen erfahren möchte, der sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Allen Beständen sehr zu empfehlen, insbesondere auch für die Diskussion in Pfarrgemeinde und Erwachsenenbildung.

Lioba Speer

Lioba Speer

rezensiert für den Borromäusverein.

Hört endlich auf damit, nur "betroffen" zu sein

Hört endlich auf damit, nur "betroffen" zu sein

Michael Gmelch
echter (2022)

156 Seiten
kt.

MedienNr.: 608823
ISBN 978-3-429-05755-8
9783429057558
ca. 14,90 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Re
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