Der weiße Abgrund
"Der weiße Abgrund": Das ist die 'Matratzengruft' von Heinrich Heine. In seinen letzten Pariser Lebensjahren trotzte der Dichter dem fortschreitenden körperlichen Zerfall - gelähmt, zeitweise erblindet, starke Schmerzen - immer wieder Verse und Briefprosa ab. Und womöglich ein auf drei Bände angelegtes Memoirenwerk. Mit dieser Fiktion spielt Henning Boëtius in seinem Heine-Roman. Doch die Erfindung von Memoiren, die es nicht gibt, ist zu schwach, um diesem Roman Leben einzuhauchen. Boëtius lässt französische Autoren - Baudelaire, Flaubert - über Heines angeblich verschollenes Erinnerungsbuch sprechen; Heine habe damit den Lügen, die die Nachwelt über ihn verbreiten werde, vorbeugen wollen. Wir erfahren aber leider viel zu wenig von diesen Lebenserinnerungen. Umso mehr führt der Erzähler indessen in das Milieu, in dem der Dichter leidet und liebt, wo er Verse diktiert und sich vorlesen lässt. Dauerpräsent ist seine Frau Mathilde, hinzu kommt eine jüngere Verehrerin, die Heine sentimental-ironisch "Mouche" nennt. Ärzte, Schriftstellerkollegen, sein Verleger, wechselnde Sekretäre: alle möchten sie etwas von dem Weltruhm abschöpfen, den Heine schon zu Lebzeiten genoss. Boëtius gelingt es, in diesen Dunstkreis hineinzuleuchten. Heines Aura wird sichtbar, aber eben auch der "weiße Abgrund", der ihn das Schaudern nicht vor dem Tod, aber vor dem Sterben lehrte, wie er 1846 an Campe schrieb. Ein lesenswertes Buch mit vielen Heine-Zitaten, die Lust machen, aufs Neue den Dichter wiederzulesen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Der weiße Abgrund
Henning Boëtius
btb (2020)
189 Seiten
fest geb.