Die einsame Stadt

Es gehört zum feinsinnigen Ton und der Intention des Buches, wenn Olivia Laing ihrem Buch als Motto den Satz aus Römer 12,5 voranstellt: "aber untereinander ist einer des andern Glied". Der Leser ist einbezogen in die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Die einsame Stadt nach dem Wahrgenommenwerden (bei Künstlern, der Wunsch bekannt zu werden), erfährt die entsetzliche Einsamkeit der Autorin, nachdem die Beziehung, wegen der sie nach New York zog, in die Brüche ging und hat Teil an den Betrachtungen, die Laing zu Künstlern anstellt, die je auf ihre individuelle Art, mehr oder weniger Außenseiter des Betriebs, die Erfahrung von Einsamkeit in großen Städten machten. Darin ist ihr zugleich ein kleiner Kurs zur US-amerikanischen Kunstgeschichte des 20. Jh. gelungen wie sie die Arbeiten von Edward Hopper, Andy Warhol (dies die prominenten Außenseiter), David Wojnarowicz und Henry Darger (die weniger prominenten Außenseiter) in kluger und persönlicher Weise beschreibt und die Lebensumstände, das biografische Moment in diesen Kunstwerken mit der Einsamkeitserfahrung zur Grundlage der Betrachtung macht. Laing lässt uns teilhaben an der Erfahrung, wie extreme Einsamkeit uns gastfreundlicher gegenüber der Fremdartigkeit anderer machen kann – gegenüber den Risiken und Innovationen von Kunst und Künstlern, die jeweils auf ihre individuelle Art Einsamkeit erfahren haben. Entstanden ist eine sensible Mischung aus persönlichem Erzählen, Geschichte und Kunstkritik. Laings Stil hat so viel Kraft und Kultur, dass die Streifzüge durch New York, durch das moderne online-Dating, die Museen und Hinterhöfe genial komponiert einen der schönsten essayistischen Texte ergeben, die dieses Jahr auf dem Buchmarkt erschienen. Das deutsche Publikum musste sieben Jahre auf dieses herausragende Buch warten. Es ist zu wünschen, dass Olivia Laings jüngstes, 2021 erschienene Buch über den Körper („Everybody“) bald in ähnlich kongenialer deutscher Übersetzung folgen möge. - Für die luzide und faszinierend zu lesende persönliche Beschreibung gilt der Autorin höchstes Lob und den Büchereien eine eindringliche Empfehlung.

Helmut Krebs

Helmut Krebs

rezensiert für den Borromäusverein.

Die einsame Stadt

Die einsame Stadt

Olivia Laing ; aus dem Englischen von Thomas Mohr
btb (2023)

410 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 614733
ISBN 978-3-442-76232-3
9783442762323
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Bi, Ku
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