Inventur des Sommers

Wie kann man eigentlich über das Abwesende schreiben? Abwesend heißt ja nicht ‚verschwunden‘, sondern ‚anderswo‘ (im Code civil). „Spur“ und „Aura“ verraten, wie nah oder wie fern uns dieses Abwesende ist (Walter Benjamin), und man Inventur des Sommers kann (wie der irische Bischof Berkeley) fragen, was denn ein Baum sei, wenn niemand da ist, der ihn als solchen wahrnehme. Der Dichterphilosoph Raoul Schrott geht in Essays und Gedichten, die vielfach auf einer Griechenlandreise während des zweiten Lockdowns entstanden sind, an das Abwesende heran. Er ortet es in den Zwischenräumen des Nachdenkens über das, was nicht sicht- oder hörbar ist: Meerjungfrauen und Musen, Güte und Gesetze, aber auch reale Personen in der Ferne von Raum oder Zeit. Was beim Picknick mit Cameron Diaz in Kappadokien und mit Kim Basinger in Anatolien passiert, wie ein Steinsockel vom Prometheus im Kaukasus erzählt, wofür der Minengoldräuber Butch Cassidy 1917 seine letzte Patrone verwendet, wie die Musen aus dem Quell heraus- oder in einen Schaffenskreis hereingerufen werden, wozu der Dichter einer schönen Tischnachbarin, die gerade einmal in den Garten geht, einen Zettel in die Handtasche steckt: das notieren die Gedichte im Licht eines aufgeklärten, immer religiös offenen Denkens. Die essayistischen Passagen erschließen die Herkunftsfamilien des Abwesenden und beweisen, warum der Dichter sich Leitern statt Flügel wünscht: um immer besser scheitern zu können. Eindringliche Texturen, klug, anregend, sehr empfehlenswert.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Inventur des Sommers

Inventur des Sommers

Raoul Schrott
Hanser (2023)

171 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 613925
ISBN 978-3-446-27633-8
9783446276338
ca. 25,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
Diesen Titel bei der ekz kaufen.