Der Verrückte in den Dünen

Literatur ist vorgestellte Welt, sie entwirft Gegenwirklichkeiten, Nicht-Orte. Je nachdem, ob diese nicht realen Orte bessere oder schlechtere Welten bilden als die existierenden, unterscheidet man zwischen Utopien und Dystopien. Uwe Timm ist eindeutig Der Verrückte in den Dünen für Erstere. Die Nachkriegsnovelle "Die Entdeckung der Currywurst" (1993) zeigt das vielleicht am besten. In einem Band über Utopie und Literatur, den er sich selbst und seinen Lesern zu seinem 80. Geburtstag geschenkt hat, bündelt Uwe Timm Aufsätze, Essays, Autobiografisches und Reiseberichte zu einem faszinierenden Porträt der Utopie. Der Titelaufsatz "Der Verrückte in den Dünen" ist Carlo Gesell gewidmet, dessen Vater 1919 in der Münchner Räterepublik tätig war. Gesell gelang es 1931, eine Stadt in die argentinischen Sanddünen zu pflanzen. Es gibt sie heute noch, eine "Glücksritterstadt", in der fleißig Cuba Libre getrunken wird, wie der Autor im DLF-Radiogespräch sagte. Auch in den Tübinger Vorlesungen "Raumordnung", die Teil des Bandes sind, stellt Uwe Timm kritische, aber insgesamt wohlwollende Betrachtungen von Utopien an: bei Thomas Morus in dem klassischen Werk "Utopia", in der Geschichte von Robinson Crusoe - bis zu Lutz Seilers "Kruso"-Roman -, in Erzählungen von Kleist, in der Graffiti-Kunst, im Turmbau zu Babel und im Campo Santo Teutonico neben dem Petersplatz - einem Friedhof, an dem sich der "Sinn jedes einzelnen" anzeigt. Wir brauchen Utopien, gerade weil es sie noch nicht gibt: um die Erde zur Heimat für alle zu machen, für die sie es nicht mehr oder noch nicht ist. Insofern stecken utopische Impulse auch in der klimaaktivistischen Bewegung. Sehr empfehlenswert.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Der Verrückte in den Dünen

Der Verrückte in den Dünen

Uwe Timm
Kiepenheuer & Witsch (2020)

251 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 600429
ISBN 978-3-462-05441-5
9783462054415
ca. 20,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Li
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