Weitlings Sommerfrische

Mit seinem neuen Roman geht Sten Nadolny wieder aufs Wasser, wie schon bei seinem sprichwörtlich gewordenen Bestseller "Die Entdeckung der Langsamkeit" von 1983. Dieses Mal schickt er seinen Protagonisten allerdings nicht aufs Nordmeer, sondern auf Weitlings Sommerfrische den Chiemsee, nicht auf einen stolzen Dreimaster, sondern auf ein kleines Segelboot. Der Berliner Richter Wilhelm Weitling ist am Chiemsee aufgewachsen, verbringt dort noch regelmäßig seine Sommerfrische und hält sich eine tückisch zu steuernde Chiemseeplätte. Als er sich damit aufs Wasser wagt, gerät er, wie schon in seiner Jugend, in ein Unwetter, kentert und wird ohnmächtig. Weitling erwacht - aber nicht als alternder Mann, sondern als 16-Jähriger. Er begleitet und beobachtet sein Alter Ego, ohne von ihm wahrgenommen zu werden, als Geist mit allen bereits gemachten Lebenserfahrungen. Nadolny setzt das romantische Doppelgängermotiv fort, das etwa bei E.T.A. Hoffmann virtuos in die Horrorliteratur führte. "Weitlings Sommerfrische" schlägt allerdings keinen entsetzten, sondern einen altersmilden und oft anekdotischen Erzählton an. Weitling kehrt in den beiden letzten Kapiteln wieder in seinen alten Körper zurück, stellt jedoch fest, dass er kein Richter, sondern Schriftsteller war. Die beunruhigende Frage nach der eigenen Identität bleibt so das Grundmotiv dieses Buches. Nadolny flicht dabei auch religiöse Motive ein, die allerdings vage bleiben. - Nadolny-Kenner werden in diesem Buch zahlreiche autobiografische Momente erkennen. Aber diese eindeutig persönlichen Bezüge sind nur die Folie für ein wunderbar erzähltes Buch, das sich grundsätzlich der Frage nach dem eigenen Ich und seinem Werden stellt.

Alois Bierl

Alois Bierl

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Weitlings Sommerfrische

Weitlings Sommerfrische

Sten Nadolny
Piper (2012)

218 S.
fest geb.

MedienNr.: 357574
ISBN 978-3-492-05450-8
9783492054508
ca. 16,99 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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