Pippins Tochters Taschentuch
Die Ich-Schreiberin mit autobiografischen Zügen will ihrer älteren Schwester Andrea darlegen, dass deren Erzeuger möglicherweise nicht Josef Seifert, sondern Franz Huber ist. Sie spielt dabei schreibend Szenen einer Ehe im Deutschland zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus nach. Wie es gewesen sein könnte, dass ihre Mutter schon kurz nach der Hochzeit sich einen Liebhaber nahm, weil sie von dem kühlen Wagnerfan Josef enttäuscht war, und wie sie in der Beziehung agiert haben könnte. Dabei kratzt sie gewaltig am Bild, das die Geschwister von ihren Eltern tradieren. Eine große Rolle in der "Korrespondenz" nimmt auch ein, dass die Ich-Erzählerin Ehemann und Liebhaber hat, die dritte Schwester trotz fünf Kindern ähnlich agierte und die Angesprochene nach einem Leben in einem beschaulichen Orden durchaus die Männerwelt goutiert. - Die Lyrikerin Waldrop bedient sich anstelle einer linearen Erzählweise eines oszillierenden, immer wieder auf Zeitgegebenheiten und Nebenumstände abschweifenden Stils. Auffällig ist dabei, dass sie statt gängiger Kapitelüberschriften die ihr wichtigen Fragen und Konklusionen der vorangegangenen Textzeilen in Versalien hervorhebt, als eröffneten sie einen neuen Abschnitt oder Gedankengang. Ohne Vorkenntnisse sind die vielen Aussagen zu jüngerer E-Musik - sicher aus ihrer musikwissenschaftlichen Ausbildung herrührend - nicht leicht einzuordnen. Der Titel, eine wörtliche Übertragung des englischen Originals, wirkt mit seinem doppelten Genitiv eher hölzern denn erhellend, bezieht er sich doch auf eine Gründungsage der Stadt Kitzingen, wonach die Merowingerin vom Schwanberg, wo heute die Mutter der Protagonistinnen lebt, ein Tüchlein fallen ließ.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Pippins Tochters Taschentuch
Rosmarie Waldrop ; aus dem Englischen von Ann Cotten
Suhrkamp Verlag (2021)
Bibliothek Suhrkamp ; 1518
275 Seiten
fest geb.