Die Straße
Heimat ist in den Romanen von Andreas Maier ein Sehnsuchtsort, ein Tatort und ein Schreibort, von dem nur in der Vergangenheit, am besten gleich mit der Kindheit beginnend, erzählt werden kann. Vor einigen Jahren hat der Autor mit einer auf elf Teile angelegten hessischen Familiensaga begonnen. "Die Straße" ist - nach "Das Zimmer" (BP/mp 10/885) und "Das Haus" (BP/mp 11/384) - der dritte Teil. Im Mittelpunkt steht ein Teenager. Seine sexuelle Aufklärung ist zugleich eine Aufklärung der Sprache und einer nicht mehr kindlichen Weltsicht, die sich in halbverstandenen Wörtern aus der "Bravo", in Schlafzimmerblicken und "Doktorspielen" niederschlägt. In der Erinnerung sucht der Ich-Erzähler einen eigenen Ort zwischen seiner älteren Schwester, die mit amerikanischen Soldaten anbändelt, und dem amerikanischen Gastschüler John, der gerne nackt im Haus herumläuft und sich mit der Frage, warum die Leute überhaupt zu dieser oder jener Meinung kommen, gegen die Zudringlichkeiten seiner Umwelt wappnet. - Andreas Maier erzählt antiidyllisch und mit leiser Ironie von den Nöten und Hoffnungen der Kindheitserinnerung, von den "Maschinisierungsgraden der Sehnsucht", episch an Balzac, sprachlich an Thomas Bernhard orientiert. Ein faszinierender, eindringlicher Roman über den Anfang der feinen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, zwischen Erinnerung und Gegenwart. Allen Beständen empfohlen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Die Straße
Andreas Maier
Suhrkamp (2013)
193 S.
fest geb.