Winters Garten
Anton Winter erlebte eine "heilige Kinderzeit" (S. 33) in einer Gartenkolonie fernab der Stadt am Meer, wohin sich nur die Berufstätigen begaben. Er wuchs mit anderen Kindern und den Alten auf, in einem gewaltigen Haus mit Garten. Frei und neugierig schaute er sich die Welt und den Tod in seiner Umgebung genau an. Er streunte durch Wiesen und Wälder, durchleuchtete Hühnereier mit einer Lampe und wärmte die Hände am frischen Gugelhupf der geliebten Großmutter. Viele Jahre später: Anton lebt in der Stadt, züchtet exotische Vögel auf der Dachterrasse eines Hochhauses. Hager und schlaflos steht er des Nachts am Fenster und schaut hinaus auf die verwahrlosten Straßen. Der Verkehr ist längst zum Erliegen gekommen, Kinder rennen frei herum und spielen Krieg. Die Menschen sind leise geworden und dünn (vgl. S. 70) und verzweifeln vor dem angekündigten Ende der Welt. Viele drängen um Gnade flehend in die Kirchen, andere begehen Massenselbstmord. Inmitten dieser Aussichtslosigkeit begegnet Anton einer Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt. Wortlos nimmt sie ihn bei der Hand, folgt ihm nach Hause und bleibt. Sie starren einander an oder schlafen miteinander. Dann beginnt die Frau zu sprechen, über ihre Träume und ihre Vergangenheit als Marine-Offizierin. Ihren Namen, Friederike, erfragt Anton erst viel später. Jetzt hilft sie in einer zum Gebärhaus umfunktionierten Klinik, wohin ihr Anton bald folgt. Friederike freundet sich mit der hochschwangeren Marta an. Nach der Geburt des Kindes, dessen Vater sich als Antons Bruder herausstellt, ziehen die beiden Paare mit Vorräten bepackt zurück aufs Land. Das Gehöft steht noch, aber die aus der Kindheit vertrauten Gerüche sind längst mit den Bewohnern verschwunden, der Garten verwildert. Der Herbst kommt, der Winter folgt bald. "Sie lebten wie unter Glas" (S. 129). So verbringen sie ihre Tage mit Erinnern und warten auf das, was da kommen mag. - Der genaue Zustand der Welt wird nicht präzisiert, das nahende Ende ist in den knappen, atmosphärischen Sätzen jedoch deutlich spürbar. Es ist die Sprache, die den aufmerksamen Leser vorwärts zieht und einen düsteren Sog entwickelt, der beim wiederholten Lesen sogar noch stärker wirkt. Denn es geschieht nicht viel in diesem Roman. Am Anfang und Ende steht die Gartenkolonie, zu der auch die Gebärklinik Parallelen aufweist: Sie ist voller Kinder und vergessener Menschen. Zwischen der Gegenwart und dem Erinnern steht die Frage: Wie leben, wenn man "abgenabelt von d[ies]er Zukunft" (S. 47 und 131) ist? Lesenswert! (Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2015)
Barbara Sckell
rezensiert für den Borromäusverein.
Winters Garten
Valerie Fritsch
Suhrkamp (2015)
154 S.
fest geb.