Tagesanbruch

Eine verfremdete Pietà-Situation: die erzählende Mutter mit ihrem toten Sohn im Arm. Doch die Geschichte der alten Frau ist keine lange Lebensbeichte, sondern eine trauernde und traurige Erinnerung an ein Leben mit Schmerz und Verlusten. Zugleich Tagesanbruch trüben aber weder Zorn noch Hader ihren Blick. Es geht um eine Nachkriegsfamilie, um den Aufstieg eines kleinen Textilladens, um den Luxus eines schwarzen Klaviers und zuletzt um den sterbenskranken Sohn, der, jenseits von Sterbebegleitung und mobiler Hospizarbeit, von der sich selbst störrisch nennenden Mutter gepflegt wird. Keimzelle des Erinnerungsmonologs ist die Geschichte von Flucht und Vertreibung, Treichels großes autobiografisches Thema. Hinzu kommt, und das ist der tiefste Schmerzpunkt des Buches, die Mehrfachvergewaltigung der fliehenden Frau vor den Augen ihres kriegsversehrten Mannes. Die Ungewissheit der Vaterschaft und das Trauma der Mutter belasten die Erinnerung, die dennoch einen Vorstoß aus dem Schweigen macht - in einer knappen, einfachen Sprache, die sich durch das gesamte Buch zieht. Berührende Lektüre, für alle Bestände.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Tagesanbruch

Tagesanbruch

Hans-Ulrich Treichel
Suhrkamp (2016)

86 S.
fest geb.

MedienNr.: 818177
ISBN 978-3-518-42525-1
9783518425251
ca. 17,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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