Außer sich
Als Ali nach Istanbul fliegt, um ihren Zwillingsbruder Anton zu suchen, kommen eine Menge Erinnerungen hoch, die sie schon lange verdrängt zu haben schien: Zum Beispiel an die enge Wohnung in Moskau, in der sie und ihr Bruder herumtollten, während ihr Vater Kostja sich betrank und ihre Mutter Valja schlug. Später zogen sie nach Berlin, das - entgegen allen Erwartungen - kein Zuckerschlecken war, sondern für Ali und Anton ein langweiliges Dasein auf dem Flur des Asylbewerberheims bedeutete, wenn sie nicht gerade Zigaretten klauen konnten oder Ausgang hatten. All dies lässt die erwachsene Ali in Istanbul Revue passieren, wo sie beim Onkel ihres besten Freundes, Elyas, eine Zuflucht findet. Nach und nach hinterfragt sie alles, ihre Identität und sogar ihr Geschlecht. Als sie Katharina im Club kennenlernt, ist sie hin und weg von ihr, muss aber bald erkennen, dass sie körperlich ein Mann namens Katho ist. Durch ihn erfährt sie von Testosteronspritzen, der alternativen Szene in Istanbul und vom traurigen Schicksal der Zirkusartistin Aglaja. Zwar trifft sie Anton, doch ist sie schon zu sehr in ihrer eigenen Welt, als dass ein Zusammenleben mit ihm noch möglich wäre. Vielmehr fühlt sie, dass sie selbst zunehmend zu Anton wird, obwohl sich ihre Umwelt noch daran gewöhnen muss. - Ein packender, tiefsinniger Roman über die Frage nach der Identität und danach, inwiefern die Herkunft das Individuum in seinen Entscheidungen und Charakterzügen beeinflusst. Zugleich wird ein Stück Geschichte aus der Sowjetunion erzählt, das sich durch bruchstückartige Erzählfetzen immer wieder in die Erzählung im Istanbul des 21. Jh. mischt. Sehr zu empfehlen.
Clara Braun
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Außer sich
Sasha Marianna Salzmann
Suhrkamp (2017)
365 S.
fest geb.