Die nackten Fragen des Evangeliums
Wie können wir Menschen mit Gott ins Gespräch kommen? Ganz einfach, sagt der italienische Theologe und Priester Ermes Ronchi, lassen wir uns doch ein auf die Fragen, die Gott selbst uns stellt. Die Evangelien überliefern uns mehr als 220 Fragen, die Jesus an seine Jünger und an die Menschen, denen er begegnete, gestellt hat. Und wer diese Fragen näher betrachtet, merkt schnell, dass die Fragen des Evangeliums "nackte Fragen" sind, unverhüllte und ungeschminkte Fragen, in denen es sofort um unser ganzes Leben, um unser ganzes Selbst geht. Zu zehn dieser Fragen hat Ermes Ronchi Betrachtungen verfasst, die er 2016 bei den alljährlichen Exerzitien von Papst Franziskus und der römischen Kurie vorgetragen hat. Zehn Fragen, die wirklich ins Zentrum des christlichen Glaubens führen, beginnend mit der ersten Frage Jesu an Andreas und Johannes bei ihrer ersten Begegnung: "Was sucht ihr?" Diese Frage wirft uns ganz zurück auf uns selbst - und zeigt uns zugleich, dass uns etwas fehlt. Die Jünger beginnen im gleichen Augenblick zu begreifen, was oder vielmehr wer allein die Antwort auf diese Frage sein könnte, sie lassen sich ein auf das Gespräch, und ihre Antwort, die ebenfalls eine Frage ist ("Wo wohnst du?"), wird zum Beginn ihres Weges der Nachfolge. Anders als Antworten eröffnen Fragen zunächst einmal vor allem Räume für weitere Gespräche, Ermes Ronchi weist jedoch darauf hin, dass die Fragen des Evangeliums darüber hinaus selbst auch schon Offenbarung sind - denn sie zeigen uns Menschen, wofür Gott sich interessiert. Die Fragen Jesu sind zwar meist sehr ernste und herausfordernde Anfragen an uns, sie sind aber dem noch voraus zuallererst Ausdruck des großen und aufrichtigen Interesses Gottes an uns Menschen: "Warum habt ihr solche Angst?", "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" und in unüberbietbar liebevoller Weise: "Frau, warum weinst du?" Wichtig ist Padre Ronchi auch, dass sich viele Fragen Jesu nicht an den Einzelnen richten, sondern an die Gemeinschaft der Jünger: "Wie viele Brote habt ihr?" Bei aller Wichtigkeit einer persönlichen Gottesbeziehung darf die Sorge um die anderen nicht zu kurz kommen: Gerade weil jeder Einzelne wichtig ist, müssen wir uns auch umeinander kümmern. Denn alle Fragen laufen letztlich hinaus auf die eine Frage, die Jesus zum Schluss des Johannes-Evangeliums dem Petrus dreimal stellt: Liebst du mich? Ein Dialog, bei dem Jesus die Anforderungen jedesmal noch weiter herunterschraubt, um Petrus entgegenzukommen - Jesus bittet um unsere Liebe, aber ohne zu überfordern. Die Liebe ist wirklich die Mitte des christlichen Glaubens, und doch ist das Christentum weit mehr als eine bloße Gefühlsreligion: "Christus zu lieben, das hat Konsequenzen", wir müssen für diese Liebe wirklich unser ganzes Leben einbringen. Nach der Betrachtung von neun Fragen Jesu widmet sich Ronchi zum Schluss auch einer Frage, die Maria gestellt hat - denn der Mensch darf durchaus auch seinerseits Gott Fragen stellen. Marias Frage an den Engel "Wie soll das geschehen?" darf auch uns als Vorbild dienen, denn es ist keine zweifelnde Frage, die nicht an die Möglichkeit der Verheißung glaubt, sondern eine vertrauensvolle Frage, die auch bereit ist für weitere Ansprüche: Auf welche Weise soll das geschehen - und was soll ich dafür tun? "Maria wahrhaft verehren" muss für den gläubigen Christen darum heißen: "im eigenen Leben weiterführen, was sie gelebt hat", Gott und den Schwestern und Brüdern in einfühlsamer, zärtlicher Liebe zu dienen. Ermes Ronchi gelingen bei seinen Betrachtungen immer wieder überraschende Einsichten und unverbrauchte Formulierungen, die aber nicht bloß eigene Ideen zum Ausdruck bringen, sondern bibeltheologisch fundiert sind. Vor allem vermag sein Buch auch durch die ganz und gar lebenspraktische Ausrichtung zu überzeugen. So richten sich die Betrachtungen wirklich an alle, die mit Christus ins Gespräch kommen wollen.
Die nackten Fragen des Evangeliums
Ermes Ronchi
Verl. Neue Stadt (2017)
189 S.
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats