Normal
Was ist eigentlich "normal"? Nun, da hat wohl jede Zeit und Gesellschaft ihre eigenen Kriterien. Doch die ändern sich zunehmend! Während es vor 30 Jahren noch als völlig normal galt, wenn man ein Jahr lang um einen verstorbenen Angehörigen trauerte, heißt es seit 1994 in psychotherapeutischen Fachbüchern, man müsse dem Patienten in solch einem Fall knapp zwei Monate Zeit lassen, bevor man seine Symptome zu behandeln habe. Nach dem neuen Diagnose-Handbuch für psychische Erkrankungen (DSM-5), das im Mai erschienen ist, sollen schon nach wenigen Wochen die Alarmglocken schlagen, wenn man sich nicht von der Trauer löst. Anhand dieses Beispiels macht Frances, ein weltweit bekannter Psychiater - deutlich, dass in unserer Gesellschaft viel zu schnell für krank, nicht normal, behandlungsbedürftig erklärt wird, was dies noch gar nicht ist. Doch wenn geradezu alltägliche und durchaus elementare Sorgen und Nöte zu geistigen Erkrankungen hochstilisiert werden, dann ist das erschreckend und trägt nicht dazu bei, das Leben zu erleichtern. In seinem Buch geht der Autor ausführlich darauf ein, was "man" unter normal versteht, wie es zu der "diagnostischen Inflation" der letzten Jahre gekommen ist, wie geradezu gesundheitsschädlich diese "Modediagnosen" sein können, und was man gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen und Therapien machen kann und sollte. - Eigentlich ein Thema, das für alle interessant ist, vom Stil her ist es jedoch eine etwas anspruchsvollere Lektüre. Deshalb nur für größere Bestände zu empfehlen.
Günter Bielemeier
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Normal
Allen Frances
DuMont (2013)
429 S.
fest geb.