Chamäleon
Die Autorin ist die Tochter eines koptischen Physikers und einer bayerischen Mutter. Am Sterbebett ihres Bruders lässt sie die Familiengeschichte seit der Großelterngeneration Revue passieren. Erlebten ihre bayerische Oma und ihre Mutter den Zweiten Weltkrieg in München, lebten ihre väterlichen Großeltern eingebunden in Großfamilie und Glaubensgemeinschaft im Nildelta fast ohne Einflüsse kriegerischer Ereignisse in Nordafrika. Durch ein Stipendium kam ihr Vater nach München und lernte bei einer Isarfloßfahrt eine junge Frau kennen. Die junge Familie kehrte nach Ägypten zurück, was eine große Umstellung für alle bedeutete. Ende der 60er Jahre verschlechterte sich die politische Lage; mit List gelangte die Familie wieder nach Bayern, wo auch die Autorin als viertes Kind geboren wurde. Erst als ihr Vater die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hatte, reiste sie mit 18 Jahren zum ersten Mal in sein Heimatland und wurde selbstverständlich in die Großfamilie aufgenommen. Wegen eines israelischen Partners arbeitete sie später in Israel und wurde wegen ihres Nachnamens für eine ägyptische Jüdin gehalten. - Das Buch erzählt viel von kulturellen Unterschieden und zugleich dem Verständnis vor allem der Familienmitglieder für die Eigenarten der anderen. Der Vater pflegte durchaus ein patriarchalisches Familienverständnis und blieb zeitlebens in die koptische Kirchengemeinde eingebunden, ohne aber die andersartigen Lebensentwürfe seiner Kinder zu beanstanden. Immer wieder reflektiert die Autorin ihr Leben mit so gegensätzlichen Wurzeln. Insgesamt ist das Buch eine gute Quelle, sich über den Prozess der Integration Kenntnisse zu verschaffen, zum einen, dass es keine Sache von wenigen Jahren ist, zum anderen, dass das Wissen um die Wurzeln integraler Bestandteil der Persönlichkeit auch der zweiten Generation ist.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Chamäleon
Annabel Wahba
eichborn (2022)
284 Seiten
fest geb.