Scherbengericht

Sie haben die Geschichte Europas mitgeschleppt in ihr mehr oder weniger freiwillig gewähltes neues Heimatland, die Gäste bei Clementine Holbergs 90. Geburtstag. Versammelt sind sie unter der blühenden Linde auf dem Lagler-Hof zu Füßen der patagonischen Scherbengericht Anden. Wie in Südtirol, der Heimat seiner Vorfahren, arbeitet dort Treugott mit Blick auf schroffe Bergzinnen. Nur dass er nun ein Lamm grillt. Für zwölf Personen. Alte Sommergäste sind die meisten; sie stammen aus Fürth, aus der Umgebung von Wien, aus Mauthausen und aus Israel. Alte Herrschaften zumeist. Zu ihnen stoßen Clementines Sohn Martin und ihre Enkel Katha und Gabriel, die ihren ungelösten Familienkonflikt seit dem Tod der Mutter vor sich her tragen. Nur mit Müh und Not umschiffen die Gäste die Klippen ihrer so unterschiedlichen Herkunft und Erlebenswelten samt einiger seniler Schrulligkeiten. Bis die alte Kristallschüssel mit dem berühmten Kipflerkartoffelsalat Rotraud Laglers am Boden zerbricht ... - Eine blühende, fruchttragende Landschaft am anderen Ende der Hemisphäre bildet den Hintergrund für eine ganz europäische Gesellschaft, über der noch dazu die Gebrechlichkeit des Alters lagert. So wirkt die Feier wie ein Widerspruch in sich selbst. Und ist so ein Abbild der europäischen Geschichte im Kleinen, so wie sie viele Betagte erfahren und ihr Leben lang mitgetragen haben. Der Autor sieht sie aber nicht mit den beckmesserischen Augen des Historikers, sondern mit viel hintergründigem, wenn nicht gar schwarzem Humor. Nicht um Erklärungs- oder Deutungsversuche geht es, sondern um das Zulassen des Gewordenen, auch beim Schicksal der ganz Jungen. Durchaus lesenswert. (Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2012, Longlist)

Pauline Lindner

Pauline Lindner

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Scherbengericht

Scherbengericht

Germán Kratochwil
Picus-Verl. (2012)

310 S.
fest geb.

MedienNr.: 360008
ISBN 978-3-85452-682-7
9783854526827
ca. 26,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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