Abfahrt
Das kann nicht gut gehen, denkt sich der Leser, wenn er den Helden Max Freydorn am Anfang seekrank durch Venedig streifen sieht, auf der Suche nach einem kostbaren Geschenk für seine Frau, einer Smaragd-Kette, die ihm denn auch gleich gestohlen wird. Und tatsächlich: Der Roman endet so, wie es seit Wagner und Thomas Mann vorgeschrieben ist, Freydorn stirbt am Weihnachtsabend auf dem Platz vor San Giacometto, der ältesten Kirche der Lagunenstadt. Dazwischen erzählt Mariam Kühsel-Hussaini die Geschichte eines unaufhaltsamen Verfalls. Freydorn ist ein Unternehmer, der in Potsdam mit seinen drei Kindern und seiner Frau, einer Ärztin, wohnt und in London als Unternehmensberater arbeitet: ein Schöngeist, der die Kunst schätzt und sich am liebsten in Wagner-Kompositionen versenkt. Allein seine übersteigerte Kunstliebe zeichnet die Autorin realitätsfremd genug, um ihrem Helden zu misstrauen. Entscheidender Faktor für Freydorns Weg in den Untergang ist jedoch das Haus, das er in Potsdam bezieht. Die Nazis haben es 1932 gebaut, kalt und monumental, und eines Tages kommt auf merkwürdig verschlungenen Wegen Max Beckmanns Triptychon "Die Abfahrt" ins Haus, ebenfalls 1932 entstanden. Das erzeugt ein gewaltiges symbolisches Potenzial, das der Roman kaum bewältigen kann; es geht um Flucht und Exil, um Mythos und Realität - wichtige Themen schon im Debütroman Kühsel-Hussainis, "Gott im Reiskorn" (BP/mp 10/117). Das eigentliche Thema der "Abfahrt" ist jedoch die Auseinandersetzung des Bürgers mit der Kunst. Die postmoderne Performance-Kunst wird genüsslich parodiert, die magische Kunst Beckmanns gefeiert - als ob Kunst erlösen könnte. Ein lesenswerter, spracherfinderischer Roman über Kunstverehrung und Lebensverdruss, manchmal etwas zu seelenvoll, aber mit kritischen Seitenblicken auf die Tradition der deutschen Innerlichkeit. Größeren Beständen empfohlen.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
Abfahrt
Mariam Kühsel-Hussaini
Berlin University Press (2011)
176 S.
fest geb.