Tsai Kun-lin - 1. Der Junge, der gerne las

Als 8. Kind der Familie Tsai wird Kun-lin 1930 geboren. Die Familie lebt auf Taiwan, das als japanische Kolonie schon lange von einer wechselhaften Kolonialgeschichte geprägt ist. Mit der Schulzeit beginnt Kun-lins lebenslange Liebe zum Lesen, doch sein Bildungsweg wird von den politischen Wirren während und nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder unterbrochen. Der erst 15-Jährige wird als Kadett in die Japanische Armee aufgenommen. Sein ursprünglicher Wunsch, Lehrer zu werden, rückt in weite Ferne, denn der chinesische Bürgerkrieg hat auch für Taiwan weitreichende Folgen. Diese auf vier Bände angelegte Graphic Novel widmet sich der authentischen Geschichte Tsai Kun-lins, einer Biografie, die von Machtwechseln und Autoritarismus geprägt ist. Für eine individuelle, nach Wünschen und Fähigkeiten ausgelegte Lebensgestaltung bleibt kein Raum, dies mag der erste, für westliche Leser:innen verstörende Eindruck sein. Familie, Nachbarschaft, Schule, Armee und Staat sind machtvolle Strukturen, denen sich jeder unterwirft. Man lernt hier viel über die Geschichte Südostasiens, über die taiwanesische Kultur und über die politischen Umwälzungen, die die Lebenswege aller bestimmen. Die Schwarz-Weiß-Zeichnungen innerhalb der strengen Panels geben sehr konzentriert Kun-lins Lebensstationen wieder; sie setzen dabei auf eine Zurückhaltung im Ausdruck, die es den Leser:innen ermöglicht, aus den Bildern eine eigene innere Geschichte zu entwerfen. Sehr wichtig sind auch die Informationen zu dem komplexen politischen Geschehen, von dem man im Vorwort und im seitenstarken Anhang erfährt. Hier wird anhand eines Einzelschicksals ein historisch-politisches Panorama entfaltet, das vor Augen führt, welch prägenden Gewalterfahrungen Kinder und ihre Familien in Diktaturen ausgesetzt sind.