Ortolan
Urlando, ein italienischer Kastrat, arbeitet als Sekretär im Auftrag eines der Bachsöhne für den am Lebensende erblindeten John Taylor und zeichnet dessen Diktate über sein Leben, seine Reisen durch Europa und sein Wirken auf. Der historisch gesicherte Taylor gehörte zu den reisenden Augenmedizinern seiner Zeit; er lobt sich selbst und verbucht auch medizinische Fehler als Erfolge, so die Behandlungen von J.S. Bach und G.F. Händel. Zwischen die diktierten Kapitel streut Urlando seine wilde Lebensgeschichte als Waise, Sänger und Gaukler. - Als weit gereister und gefeierter Okulist ist Taylor tatsächlich vielen hochgestellten und berühmten Zeitgenossen begegnet. Der Untertitel "Das Blendwerk des Chevalier John Taylor" ist doppeldeutig, trat Taylor doch einerseits stets mit großem Pomp auf und überredete seine Patienten geschickt; andererseits muss die Zahl seiner Fehlschläge groß gewesen sein; nicht wenige Menschen dürften erst durch seine Behandlung erblindet sein. Der Autor schmückt diese Begegnungen zu philosophischen Gedanken über das Sehen und Erkennen aus. Lehnt Hillger sich im ersten Kapitel sprachlich ein wenig an den barocken Duktus an, sind die beiden Lebensgeschichten im heutigen Stil geschrieben. Das Buch beleuchtet das Spannungsfeld mit den ersten Erkenntnissen unserer Medizin samt etlichem Aberglauben und Drecksmedizin mit den zeitgleichen Gedanken der Aufklärung und ihren Protagonisten. So ergibt sich ein stimmiges Bild der Epoche um 1750.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Ortolan
Andreas Hillger
Osburg Verlag (2020)
265 Seiten
fest geb.