Orfeo
Die Kompositionen von Peter Els waren in den Siebzigern Avantgarde. Jetzt will der Musikprofessor im Ruhestand, der früher Chemie studiert hatte, der DNA ihre musikalische Struktur ablauschen. Als sein Hund stirbt, ruft er in seiner Verwirrung die Polizei. Die Beamten entdecken das Labor in der Küche seines Häuschens in der kleinen College-Stadt in Pennsylvania und schöpfen Verdacht, denn nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist die Angst der Amerikaner vor biologischen Attentätern groß. Der Hobbygenetiker flüchtet in Panik. Eine Treibjagd des FBI auf den Siebzigjährigen beginnt. Auf der Flucht quer durch die USA erinnert sich Els an sein Leben: Wie er als musikalisch Hochbegabter, der aber in Anbetracht einer unsicheren Zukunft als Musiker Chemie studiert, heiratet, eine Tochter bekommt und sich und seine Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, bevor er sich schließlich doch dazu durchringt, seiner Musik-Leidenschaft zu folgen und sich deswegen sogar von seiner Frau trennt. Wie er dann als kreativer Komponist stets dem Vorbild von John Cage oder Olivier Messiaen nacheifernd die Entwicklung Neuer Musik anstrebte, wie er aber auch den Horror wahrnahm, den seine Musik bei vielen Zuhörern auslöste. - Der Autor verbindet in seinem brillanten Roman ungeheuer ideenreich die Probleme des Familienlebens, die Weise, wie die Protagonisten der Neuen Musik mit ihren radikalen Erweiterungen der klanglichen Mittel und Formen Kritik auf sich zogen sowie die grenzenlosen Möglichkeiten der Biochemie als neue Kunstform. Das Ganze spielt sich ab im Umfeld einer Nation, die nach dem Anschlag vom 11. September 2001 jeglichen Sinn für Verhältnismäßigkeit im Umgang mit Terrorverdächtigen verloren hat. Richard Powers zeichnet seine Hauptfigur lebendig, liebevoll und nicht ohne Ironie, neigt aber zu ausufernder Gedankenprosa. Insgesamt jedoch ein formenreicher Künstlerroman, allen Büchereien sehr empfohlen. (Übers.: Manfred Allié)
Günther Freund
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Orfeo
Richard Powers
S. Fischer (2014)
491 S.
fest geb.