Ein falsches Wort
Die Ich-Erzählerin Bergljot (geschiedene Akademikerin um die 50, drei erwachsene Kinder) hat seit über 20 Jahren keinen wirklichen Kontakt mehr zu ihren Eltern und ihren Geschwistern. Auch ihr älterer Bruder Bård hat sich von der Familie abgewandt. Als dieser erfährt, dass den jüngeren Schwestern Åsa und Astrid die beiden elterlichen Ferienhütten zu einem viel zu niedrigen Schätzwert überschrieben wurden, geht er auf die Barrikaden. Alte Wunden - sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern - werden aufgerissen, nach und nach erfahren die Lesenden, warum die beiden älteren Geschwister mit ihrer Herkunftsfamilie gebrochen haben. Ein schockierender Vorwurf steht im Raum, dessen Wahrheitsgehalt nicht abschließend geklärt werden kann. Am Ende steht die Frage, ob nach so tiefen Verletzungen eine Versöhnung überhaupt möglich ist. - Wer nach einem handlungsreichen Roman sucht, ist hier eher schlecht bedient: Der Plot beschränkt sich im Wesentlichen darauf, wer mit wem telefoniert, einen Brief schreibt oder sich im Café trifft. Die unglaubliche Sogwirkung dieser 400 Seiten starken Abhandlung liegt vielmehr in der sprachlichen Kraft der Autorin. Mit gekonnten, sich endlos wiederholenden Gedankenschleifen zieht sie die Leserschaft mit hinein in den Strudel dieses komplexen familiären Beziehungsdramas. In Norwegen löste der autofiktionale Roman einen Skandal aus, da die darin formulierten Vorwürfe als real angesehen wurden. Die Schwester der Autorin antwortete sogar mit einem "Gegenroman". Die hohen Verkaufszahlen und vielen Auszeichnungen (auch im englischsprachigen Raum) haben den S. Fischer-Verlag wohl dazu bewogen, nach der deutschen Erstausgabe (unter dem Titel "Bergljots Familie", Osburg Verlag 2017) nun eine zweite deutsche Fassung auf den Markt zu bringen.
Franziska Knogl
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Ein falsches Wort
Vigdis Hjorth ; aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
S. FISCHER (2024)
396 Seiten
fest geb.