Die Erinnerung nicht vergessen

Die Autorin musste vor dem aktuellen russisch-ukrainischen Krieg nach Berlin emigrieren und gehört zu den öffentlichen Kritikerinnen der russischen Führung. In ihrem autobiografischen Buch, das sehr gut aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt Die Erinnerung nicht vergessen und Christina Links übersetzt wurde, mischen sich persönliche Erinnerungen mit zeit- und gesellschaftskritischen Analysen. Ob es um die frühen Kindheitserinnerungen in ihrer Mehrgenerationenfamilie in Moskau geht, um Freundeskreise, um Alltägliches wie die Wiederverwertung von Kleidung und deren Bezug zum sowjetischen Dasein, es entstehen aus der Perspektive einer fast 80-jährigen Biologin und Schriftstellerin interessante Einblicke in ein bewegtes Leben, das sich jedem Klischee entzieht. Im 2. Teil des Buches weitet sich der Blick auf die Frage individueller Freiheit in totalitären Staatssystemen und auf die persönliche Haltung der Autorin zu Religionen. Für sie ist das Scheitern sozialer Mythen und auch von Kapitalismus und Sozialismus Realität, ohne dass eine neue Lebensform schon erkennbar ist. Das Buch endet mit dem Appell, gewohnte Begrifflichkeiten wie Liebe, Hass, Mitgefühl und Freundschaft neu zu bewerten, um nicht immer wieder in Kriegen zu enden (vgl. S. 189). Tagebuchausschnitte und ein aktuelles Interview mit der Autorin zum Krieg Russlands mit der Ukraine ergänzen die autobiografischen Teile des Buches. Es leistet einen wichtigen Beitrag im Blick auf den kulturellen Dialog zwischen Deutschland und Russland.

Lioba Speer

Lioba Speer

rezensiert für den Borromäusverein.

Die Erinnerung nicht vergessen

Die Erinnerung nicht vergessen

Ljudmila Ulitzkaja ; aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und [einer weiteren]
Hanser (2023)

191 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 613889
ISBN 978-3-446-27630-7
9783446276307
ca. 23,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: Li
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