Leben tief und weit
Unterbrechung sei die kürzeste Definition von Religion, sagte der Theologe Johann Baptist Metz. Im Getriebe des Alltags, der uns mit Tagesroutinen und Terminen vollständig zu vereinnahmen droht, sind diese Unterbrechungen dringend nötig. Ein Espresso oder ein Glas Wasser verhelfen oft zu einer Auszeit, auch ein kurzer Text, ein Gedanke, der auch den Kontakt zu Gott herstellt, kann eine willkommene Unterbrechung sein. Solches Studentenfutter für die Seele bietet "Leben tief und weit" des Kapuziners Niklaus Kuster. In kurzen Texten für jeden Tag der Woche deutet er entlang der Jahreszeiten und der christlichen Feste einen Bibelvers für den Alltag. Unter der Überschrift "Gottes leise Zuwendung" interpretiert er z.B. einen Satz aus der Elija-Geschichte im Buch der Könige: "Ein Engel rührte Elija an und sprach zu ihm: Steh auf und iss!" Der Sonntagsimpuls dazu gilt der Wohltat, ausschlafen zu dürfen, und erinnert an die Notwendigkeit von Auszeiten, die schon die Bibel kennt. In der Elija-Geschichte lässt Gott seinen Propheten schlafen. Und er tut noch mehr für ihn, wie der Montagsimpuls zeigt: Er sorgt für frisches Wasser und duftendes Fladenbrot. Kuster lädt dazu ein, besonders auf die kleinen Zeichen für Gottes "mütterliche Sorge" zu achten. Die weiteren Impulse der Woche enthalten die Botschaft: Vor Gott dürfen die Menschen schwach sein, dürfen nicht mehr können und nicht mehr wollen. "Selig, wer Schwäche zulässt und auch bitteren Gefühlen Raum gibt", schreibt Kuster. Gott könne selbst in den Tiefpunkten unseres Lebens noch Kraftquellen öffnen. Die kurzen Meditationen spiegeln unseren Alltag und unsere Lebenserfahrungen in den Worten der Bibel. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge am Rande und sind damit auch eine Schule der Achtsamkeit. Auf diese Weise öffnen sie den Blick für die Gegenwart Gottes. Kusters Texte verweisen auf einen Gott, der die Menschen mit ihren Schwächen und Fehlern nicht nur aushält, sondern liebt und der leise und unaufdringlich an ihrer Seite alle Wege mitgeht. Und da Kuster als Kapuziner zur franziskanischen Familie gehört, ist immer wieder auch von Franziskus, Klara und anderen franziskanischen Gestalten die Rede, die diese Erfahrung gemacht haben. Die Texte entstanden über sieben Jahre hinweg in einem ökumenischen Projekt. Die Schweizer evangelisch-reformierte Zeitschrift "Doppelpunkt" bat 1999 Kuster und einen orthodoxen Familienvater zusammen mit evangelischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, jede Woche einen Bibelvers aus den Herrnhuter Losungen für den Alltag zu deuten. Das Buch beginnt klassisch mit der ersten Adventswoche, doch einsteigen kann man zu jedem Zeitpunkt. Die Kapitelüberschriften machen neugierig und bieten auch die Möglichkeit, die Impulse nicht nur jahreszeitbezogen zu lesen, sondern gezielt für bestimmte Lebenssituationen herauszusuchen: "Impulse für Trockenzeiten", "Impulse für eine Spurensuche" usw.
Kusters Texte sind wohltuende Unterbrechungen des Alltags, spirituelle Snacks, denen man lange nachschmecken kann und die das "Leben tief und weit" machen.
Christoph Holzapfel
rezensiert für den Borromäusverein.
Leben tief und weit
Niklaus Kuster
Camino (2015)
279 S.
fest geb.
Auszeichnung: Religiöses Buch des Monats