LiES
Nimm und lies ("tolle, lege"), so beschreibt Augustinus seine Bekehrung durch die Heilige Schrift. Und auch dieses Buch mit dem Titel "LiES", aus dem man aber nicht die Bibel, sondern die "Lies", die "Lügengeschichten" der Fiktion heraushören müsste, vollzieht eine Kehrtwende. Es ist aus einer Idee von Hauke Hückstädt entstanden. Der ist Leiter des Frankfurter Literaturhauses und fand, dass es doch auch verständliche Literatur für die über 20 Millionen Menschen in Deutschland geben soll, die nicht gut lesen können. Und so lud er 13 Schriftsteller ein, "einfache Geschichten" zu schreiben und vorzulesen. Sie stehen nun versammelt in einem Band, der sich wirklich zu lesen lohnt, Alphabetisierungskünste hin oder her. Kurze Sätze, einfache Wörter, Verben statt Hauptwörter, Vermeidung von Perspektivwechseln und Zeitsprüngen: Es ist eine einfache Sprache, welche den Geschichten diese Regeln gibt. Thematisch geht es um Verliebtsein und Freundschaft, um Verlassenwerden und Gewalt, um Migration und "Hunger", wie in der wohl schlichtesten und eben darum überzeugendsten Story von Arno Geiger. Dennoch lässt sich ein Hang zu Aufklärung und Bildung nicht ganz wegleugnen, aber das ist gut so, denn wer weiterfragt, der entdeckt, dass das sprechende Bild "Germania" in Nora Bossongs Erzählung "Kohle und Leinwand" tatsächlich in der Frankfurter Paulskirche hing, dass Margot in Alissa Walsers Geschichte die vernachlässigte Schwester von Anne Frank ist, dass Mirko Bonné seinen Erzähler Hölder den Puppenschrank im Hause der Gontards bewundern lässt, wo Hölderlin sich unsterblich in die Hausdame Susette verliebte. Sehr empfehlenswert, für alle Bestände.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
LiES
Hauke Hückstädt (Herausgeber) ; Geschichten von Alissa Walser [und 12 weiteren]
Piper (2020)
283 Seiten
fest geb.