Unschuld

Es ist wohl nicht falsch, den neuen Roman des bekannten Autors als Thesenroman zu bezeichnen, der viele Gegenwartsthemen einbezieht (Gefahren und Chancen des Internets, Anpassung und Widerstand in der DDR, Umweltproblematik, Sozialismus, Feminismus Unschuld - und immer wieder Sex und Beziehungsdesaster ...), dessen Quintessenz sich aber darin zusammenfassen lässt, dass der Mensch Schuld auf sich laden muss, ganz gleich, wie sehr er nach "Reinheit" (Purity - so der Titel der engl. Originalausgabe) strebt. Ohne Zweifel ist der Autor ein Meister in der Beschreibung atmosphärisch dichter Situationen und stellt komplexe Beziehungsgeflechte in psychologischer Feinfühligkeit treffsicher, spannend und farbig dar, z.B. bei der (allerdings unnötig breit angelegten) Liebes- und Hassgeschichte zwischen Tom Aberant und Anabel. Dem Leser werden aber auch eine Menge konstruiert wirkender Vor- und Zufälle zugemutet. Auch das Personal dieses z.T. ausufernden Gesellschafts-, Familien- und Entwicklungsromans ist mitunter weit von der Lebenswirklichkeit entfernt. Gemeinsam ist allen Protagonisten z.B. ein veritabler, teilweise grotesk übersteigerter Vater-/Mutter-Sohn oder Mutter-/Vater-Tochter-Komplex. Die geradezu paranoide Abkehr Anabels von ihrem kapitalistischen Vater geht so weit, dass sie in die Anonymität abtaucht und in völliger materieller Bedürfnislosigkeit eine Tochter mit dem bedeutungsschweren Namen Purity großzieht und diese sogar ihrem von ihr getrennten Ehemann verheimlicht - und dies alles nur, um sich von ihrem Vater lossagen zu können und das Milliardenerbe nicht antreten zu müssen. In kuriosem Gegensatz dazu gerät ihre Tochter Pip (selbst gewählte Abkürzung für Purity) auf der Suche nach ihrem Vater dann an den charismatischen Frauenverführer Andreas Wolf, einem nur scheinbar überaus integren Whistleblower, der von Bolivien aus eine gefürchtete Enthüllungsplattform betreibt, obwohl er selbst in der ehemaligen DDR einen Mord begangen hat. Dieses Kapitalverbrechen hatte er einst einem ihm nur flüchtig bekannten amerikanischen Journalisten (Tom Aberant, der Vater von Pip) gestanden, dessen Enthüllung er in den folgenden Jahrzehnten in paranoider Weise fürchtet und zu unterbinden versucht. Plakativer lässt sich Doppelmoral nicht inszenieren! Und auch Purity, die programmatische Reinheit, macht sich schuldig. Fazit: ein fesselnder, virtuos geschriebener, etwas zu breit angelegter, den Zeitgeist in vielerlei Hinsicht reflektierender Gegenwartsroman, dessen Lektüre man insgesamt empfehlen kann. (Übers.: Bettina Abarbanell u. Eike Schönfeld)

Unschuld

Unschuld

Jonathan Franzen
Rowohlt (2015)

829 S.
fest geb.

MedienNr.: 798875
ISBN 978-3-498-02137-5
9783498021375
ca. 26,95 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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