Nach vorn, nach Süden

"Es ist Dienstagabend, und ich fühle mich wie ein Nebensatz." (S.121) In letzter Zeit mal so eine knappe, präzise Formulierung gehört, die das Gefühl beschreibt, irgendwie (gerade?) nicht so richtig dazuzugehören? Da hängt eine Gruppe von Jugendlichen Nach vorn, nach Süden zusammen auf einem Penny-Hinterhof ab, auf dem sie alle als Aushilfen arbeiten und die Ich-Erzählerin gehört dazu. Und dann auch irgendwie doch nicht. Wenn Spitznamen ein Ausdruck von besonderer Beziehung sind, was bedeutet es dann, dass eben jene Ich-Erzählerin (19 Jahre) von allen nur "Entenarsch" genannt wird? Nun, vor ein paar Monaten ist jedenfalls der 16-jährige Joe aus dieser Hinterhoftruppe und aus der Stadt verschwunden. Marie, seine Ex-aber-noch-verliebt-Freundin, wunderschön und harmoniebegabt, will ihn nun suchen, und da von ihm Postkarten aus Fulda / Frankfurt / Würzburg kamen, muss man eben diese Orte aufsuchen. Die Einzige, die ein Auto und einen Führerschein besitzt, ist die Ich-Erzählerin, und so wird sich bei gefühlt 40 Grad im Schatten in ihren dreitürigen Opel Corsa ohne Klimaanlage gequetscht. Jeder und jede hat dafür eigene Beweggründe und bei der Hauptfigur ist das eben nicht nur der Wunsch irgendwo dazuzugehören, sondern auch ihr wahnsinnig schlagfertiger und charmanter Mitreisender Caan. Und irgendwie scheint sie am Verschwinden von Joe auch nicht ganz unbeteiligt zu sein. Die Zeit drängt, aber die Fahrerin hat so ihre Prinzipien. Keine Autobahn und auch nicht schneller als 80 - da werden dann an kleinen Aussagen als Reaktion auf Zeitnot bereits riesige Entwicklungsschritte deutlich: "Ich kann hundert fahren, weil ich Marie so gerne helfen möchte und es das Einzige ist, das mir in den Sinn kommt, das Einzige, das ich für sie tun kann. Ich kann hundert fahren. Das schaffe ich bestimmt." (S. 57) Sarah Jäger liefert in ihrem Debüt "Nach vorn, nach Süden" eine großartige Roadnovel. Sie erzählt rasant vom Abenteuer Leben, wie es ist, da irgendwie seinen Platz (oder eine Richtung) zu finden, so dass sich da auch ein Sinn ergibt. Ihr gelingt es, mit aussagekräftigen unverbrauchten Sprachbildern Situationen und Figuren zu beschreiben, so dass sofort Atmosphäre entsteht. Ob das Jungs sind, die aus Holzpaletten einen Aussichtsturm bauen, Punkbands, die "Blümchenschlüpper" heißen, Mütter, die ihre Familie verlassen haben, aber Fotos von Familienurlauben horten. Leichtfüßig, witzige Dialoge, aber nicht banal. Klug konstruiert. Aus Entenarsch wird Lena. Dieses Buch ist ein echter Hauptsatz.

Anna Winkler-Benders

Anna Winkler-Benders

rezensiert für den Borromäusverein.

Nach vorn, nach Süden

Nach vorn, nach Süden

Sarah Jäger
Rowohlt Taschenbuch Verlag (2020)

223 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 943057
ISBN 978-3-499-00239-7
9783499002397
ca. 18,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: J
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