Steglitz
Leni Müller wird nach kurzer Ehe von ihrem Mann verlassen, ihr Bruder wird von ihm für die Initiierung und Umsetzung einer unfreiwilligen Trennung bezahlt. Leni entreißt es so aus ihrem Leben von Müßigkeit und Gleichklang, den sie vor dem Hintergrund ihrer als Kind erlittenen Familienerfahrungen als erfüllend betrachtet. Ihr Mäandern durch die Berliner Stadtteile Steglitz und Friedenau, Unterdrückung und Missbrauch in Gelegenheitsjobs, lässt die Erinnerungen an ihre vom Alkoholismus des Vaters dominierte und zerbrochene Herkunftsfamilie neu aufkeimen. Die moralinsauren Zurechtweisungen eines Priesters, die ihr real oder in (Wahn-) Vorstellungen begegnen, zeugen von einem nicht erwachsenen Glauben, der dennoch Trost spendet. Das ein ehemaliger Klassenkamerad, Polizist im Kiez, sie wiederentdeckt, nährt Lenis Sehnsuchtshoffnungen. Eine neue Beziehung erscheint als Zukunftsoption. - Ein sprachlich gekonnter, psychologisierender Roman voller Tristesse und Hoffnungslosigkeit. Die belastenden Milieuschilderungen bieten den Lesenden die Chance, Vorstellungen für Lebensschicksale auf der "Schattenseite" des Lebens zu entwickeln. Für ausgebaute Bestände und reflexionsgeübte Leser:innen.
Rolf Pitsch
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Steglitz
Inès Bayard ; aus dem Französischen von Theresa Benkert
Paul Zsolnay Verlag (2023)
187 Seiten
fest geb.