Mémorial

Die Ich-Erzählerin wartet auf einem winterlichen Bahnhof - möglicherweise in Berlin - auf ihren Zug nach Polen. In ihre Beobachtungen der anderen Wartenden mischen sich die Stimmen aus ihrer Vergangenheit. In bruchstückhaften Dialogen erklärt sich, Mémorial warum die Reisende auf diesem Weg die Spuren ihrer Herkunft ausfindig machen will: Als Jüngere haben ihre Angehörigen allenfalls Episoden der Familiengeschichte preisgegeben, weil sie die Erzählerin schützen wollten; heute sind sie aufgrund ihres Alters und ihres Zustandes dazu nicht mehr in der Lage. Der zweite Teil des Romans handelt von einer Zugbekanntschaft, einer Frau, die in Oswiecim/Auschwitz lebt, die darlegt, weshalb sie als junge Frau die Stadt, die gedanklich immer im Schatten des KZs Auschwitz steht, verlassen hat, aber die es dann doch drängte, dorthin zurückzukehren. Im dritten Teil hat die Erzählerin ihr Ziel, die Stadt Kielce erreicht. Er beschreibt, wie sie sich nur ganz vorsichtig den Orten nähert, von denen sie aus den familiären Berichten weiß. - Als Motiv des Aufbruchs kann man herauslesen, dass die Erzählerin trotz aller Versuche, ihr die Herkunft zu verschleiern, oder gerade deswegen, das Bedürfnis entwickelt, ihre Wurzeln zu suchen. Ein Motiv, das nicht nur bei einer jüdischen Familie, die die schrecklichen Zeiten des 20. Jh. erlebt und überlebt hat, auftaucht. Die Suche nach den eigenen Wurzeln dürfte viele Menschen bewegen, die wissen oder ahnen, dass sie von ihrer Herkunft geprägt sind. Der Roman ist für sie alle und die immer wieder auftauchenden Fragen ein sprachlich sehr stringentes Beispiel.

Pauline Lindner

Pauline Lindner

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Mémorial

Mémorial

Cécile Wajsbrot ; aus dem Französischen von Holger Fock und [einer weiteren]
Wallstein Verlag (2023)

171 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 752296
ISBN 978-3-8353-5528-6
9783835355286
ca. 22,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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