Den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch hat 2023 ein sogenanntes „Silent Book“ bekommen. Benjamin Gottwald gelingt mit Spinne spielt Klavier - Geräusche zum Mitmachen das Kunststück, mit einem Buch ohne Text den Raum durch die Stimmen und den Spaß der aktiven Zuhörerinnen zum Klingen zu bringen.
Bilderbücher ohne Text sind ein Abenteuer für all diejenigen, die sich Zeit nehmen und sich gemeinsam darauf einlassen. Antje Ehmann stellt acht herausragenden Titel mit ganz unterschiedlichen Themen und Illustrationsstilen für Kinder und Erwachsene vor - ohne Alters- und ohne Sprachgrenzen.
„Ich wollte meine Kindheitserinnerungen in diesem Garten auf eine spezielle Art und Weise mit allen teilen, und da waren Worte nicht notwendig für mich,“ so Irene Penazzi zu ihrem wundervollen Wimmelbuch In unserem Garten. Ein Gang durch die Jahreszeiten wird den Betrachtern hier in aller Detailfreude, Naturfülle und mit vielen Kindern präsentiert. Mit Buntstiften, Kreide und Wasserfarben zaubert sie mit zartem, charmantem Strich eine Idylle auf die insgesamt zwanzig Doppelseiten. „Reizvoll für mich ist die Tatsache, dass all die kleinen Elemente, Situationen und Charaktere ganz ohne Text der Startpunkt für ganz viele Geschichten und Interpretationen sein kann, die wieder und wieder erzählt werden können,“ so die italienischen Illustratorin.
Nicht nur in einen Garten, sondern gleich in einen Urwald entführt und Reto Crameri mit seinem textlosen Bilder- und Wendebuch Alula. Eine Art Kleinod und fantasievolle Augenweide in klarer Farbgebung, die der Schweizer Illustrator hier mit dem Druck in Pantonefarben erschaffen hat. Zwei neugierige Kinder, überdimensionale Weinbergschnecken, hohe Bäume, Wäscheleinen zum Dranhängen und Steine zum Hüpfen. Das alles bietet der Garten. Aber auch der Urwald steckt voller Überraschungen. „Ohne Text geht es dem Leser ein wenig wie den beiden Kindern. Er muss improvisieren, so wie auch das kindliche Spiel aus Improvisationen besteht. Aber er wird damit auch Teil des schöpferischen Prozesses, denn vielleicht werden ja auch andere Lesarten ausprobiert,“ so Crameri`s Überlegungen.
Ganz emotional geht es zu in dem großartigen Bilderbuch von Freya Blackwood Der Junge und der Elefant. Die australische Künstlerin hat schon mit mehreren Bilderbüchern auf sich aufmerksam gemacht. An der Seite eines Jungen gehen wir mit durch seine Gedanken und Gefühle, und können eine Zeitlang in seine Welt eintauchen. „Das Bilderbuch war gar nicht von Anfang an als Silent Book gedacht. Aber als ich meinem Verleger das Storyboard zeigte, mochten wir beide die Idee, dass es ohne Worte bleibt und dass sich das auch noch richtig angefühlt hat, als ich die Illustrationen vollendet hatte,“ erinnert sie sich. Interessanterweise hat sie die Buchstaben vermisst - als ein grafisches Element der Seitengestaltung. Doch mit unterschiedlicher Geschwindig-keit und in sich stimmiger Abwechslung hat Freya Blackwood ihre Seiten einfallsreich gestaltet. Welche Rolle der Elefant dabei spielt und wie sich am Ende alles zum Guten wendet, das kann hier intensiv miterlebt werden.
Ganz in ihre eigene Fantasiewelt tauchen auch die beiden Geschwister-kinder in Jens Rassmus' Silent Book Debüt ein. Regentag besticht durch die Feinfühligkeit des vielseitigen Kieler Illustrators. „Wenn der Text fehlt, müssen natürlich die Bilder alles erzählen. Bei der äußeren Handlung funktioniert das ganz gut. Schwieriger wird es, wenn die innere Handlung, die Gefühle und die Motivationen der Figuren gezeigt werden sollen,“ so Rassmus zu seiner Arbeit am Silent Book Debüt in schwarz-weiß Zeichnungen und Acrylfarben. Dabei wird es keine Sekunde langweilig wenn man durch Umblättern mitverfolgt, wie die beiden mal einen Flug auf einem überdimensionalen Käfer machen oder sich mit ein paar Pinselstrichen im Gesicht direkt in zwei Wildkatzen verwandeln. „Die Bilder müssen all die Aufgaben übernehmen, die der Text sonst im Wesentlichen erfüllt: das Tempo steuern, die Geschichte rhythmisieren und die Spannung aufbauen,“ ergänzt Rassmus noch.
Sehr spannend sind auch die Reisen, genauer gesagt die Klassenausflüge der besonderen Art, die in den Bilderbüchern von John Hare unternommen werden. Mal unter Wasser, mal auf dem Mond und - wie in diesem Fall nun - auf Die Vulkaninsel. „Textlose Bilderbücher können unter Umständen auch schwieriger sein, weil die Idee sehr klar werden muss, denn kein Wort hilft, den Betrachter durch die Handlung zu führen,“ so der amerikanische Illustrator. Einen eindrucksvollen Riesenkrater sieht man da auf einer Doppelseite, und was es dort für Wesen gibt, das kann man bis zum spektakulären Abschied beim gemeinsamen Betrachten entdecken. „Der „Leser“ muss langsamer werden, sich selbst stärker einbringen um das Kunstwerk zu begreifen. So wird er in gewisser Weise mehr in die Welt des Künstlers hineingezogen,“ so Hare weiter zu seinen Werken. Überraschungen, Unglaubliches und große Emotionen gibt es hier jedenfalls reichlich.
Und auch bei dem Bilderbuch der slowenischen Illustratorin Maja Kastelic geht es um Emotion, genauer gesagt um eine tiefe Freundschaft zwischen einem Kind namens Anton und einem freundlichen Wesen, dem Gargoyle. Schon die erste Illustration in zarten Pastellfarben zeigt die beiden, wie sie innig ihre Stirn aneinanderlegen. „Ich habe die Geschichte von Jo Ellen Bogart auf zwei Seiten beschrieben bekommen,“ erinnert sie sich. Anton und der Gargoyle entführt die Betrachter mal in kleinteiligen Sequenzen und dann wieder auf eindrucksvollen Doppelseiten auf eine Reise nach Paris. Denn da gehört das Wesen hin, das in Antons Zimmer aus einem Stein geschlüpft ist. Hoch oben auf der berühmten Kathedrale Notre-Dame ist sein Zuhause. Ebenfalls faszinierend, wie Kastelic die architektonischen Feinheiten der französischen Hauptstadt zeichnerisch einfängt.
Ähnlich filigran und feinfühlig strahlen die Illustrationen von Aaron Becker in dem Sammelband Die magische Reise. Zehn Jahre ist es her, dass der erste Band der Trilogie in den USA erschienen ist. „Ich wollte schon immer ein Kinderbuch schreiben,“ erinnert er sich. „Als ich die Skizzen hatte, wollte ich die Worte hinzufügen und merkte, dass diese Geschichte überhaupt keine Worte braucht.“ Und tatsächlich, so wie das Mädchen ihre magische Welt mit dem Stift erst zeichnet und sie dann real wird, so funktioniert auch dieses eindrucksvolle Bilderbuch. Beim Betrachten der Illustrationen eröffnen sich fantastische Welten. „Abhängig vom Alter der Betrachter gibt es ganz unterschiedliche Momente, die jeweils Bedeutung bekommen. Das habe ich nach und nach entdeckt. Kleinere Kinder sind meist mit dem Vogel beschäftigt, etwas ältere mögen die Abenteueraspekte der Geschichte und Erwachsene finden sich in den emotionalen Stellen am ehesten wider - so etwa die Umarmung von Vater und Tochter.“
Ein Silent Book für alle, so wie es im fünften Tortenbuch von Thé Tjong-Khing Torte für alle! gibt. Aber ganz so einfach ist es nicht, denn - wie sollte es anders sein - mal wieder wird die leckere Torte geraubt! Doch auch alles andere, was auf der vielversprechenden Picknick-decke lag, ist auf und davon - in den Krallen des Greifvogels. Bereits der erste Band Die Torte ist weg! wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2007 nominiert. „Bei diesem textlosen Bilderbuch übernehmen die klug komponierten Illustrationen die erzählerische Funktion,“ ist da in der Jurybegründung zu lesen. Und tatsächlich, man muss nur genau hinsehen, dabei eifrig hin- und herumblättern - schon sieht man jede Menge Details und kann verfolgen, was der kleine Hase, die Frösche oder die Rattenfamilie erlebt. In Tinte und Aquarellfarbe bannt der niederländische Illustrator äußerst originelle Tiere inmitten der Natur auf die großzügig angelegten Doppelseiten. Und ganz wie von selbst kommt man da, wie bei allen anderen hier vorgestellten Titeln, ins Erzählen.
„Bevor Sie beginnen, sollten Sie eines im Hinterkopf behalten: Sie werden ihrem Publikum keine Geschichte erzählen. Sie sind dabei, eine zu entdecken, gemeinsam. Und wenn alles gut geht, werden die Kinder Ihnen eine Geschichte erzählen.“ Und: „Was seht ihr?“, „Was seht ihr noch?“ Und „Was würdest Du tun?“ - diese drei Fragen, die es sich seiner Meinung nach lohnt, während des Betrachten des Silent Books zu stellen - so Aaron Becker in seinem Leitfaden zum Lesen eines textfreien Bilderbuchs. Ein Abenteuer, das sich lohnt! Probieren Sie es hier aus!