Wenn ich endlich groß bin…
Antje Ehmann
Die meisten Kinder leben gedanklich in der Gegenwart und erleben den Augenblick. Aber auch sie haben schon Erinnerungen, wenn man etwa nach besonderen Erlebnissen während ihrer Kita-Zeit fragt oder nach den Momenten, die ihr Leben verändert haben. Auch die Zukunft interessiert viele Kinder sehr: was werde ich für einen Beruf haben und wie möchte ich später leben? - Antje Ehmann hat sich umgeschaut und acht interessante, künstlerisch herausragende Bilder- und Kindersachbücher entdeckt, die sich dem Thema Gegenwart und Zukunft aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähern.
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Antje Ehmann
Rébecca Dautremer gelingt ein wahres Kunststück. Grundlage dafür ist eine zündende Idee - und die hatte die französische Künstlerin. Wie wäre es wohl, wenn man sich vorstellt, was in ein und derselben Sekunde passiert, bei einhundert famosen Tierfiguren? Ein faszinierendes Unterfangen, das den Rahmen zu sprengen scheint. Aber auch da hatte Dautremer eine hervorragende Idee: Warum nicht ein großformatiges Leporello wählen, um all die unterschiedlichen Stadtszenen darzustellen? Das beeindruckende Panorama Eine winzig kleine Sekunde lädt ebenso zum Versinken wie zum genauen Betrachten ein. Als ausführliches Extra dabei: der aufschlussreiche Text, mit dem man sich zweifellos länger als eine Sekunde beschäftigen kann, und der etliches über Frau von Paris, die Kleine, Leon und Napoleon und Hase Jacominus Gainsborough verrät.
Auch in Der kleine große Augenblick dreht sich alles um die Gegenwart, genauer gesagt, um das Glück, das man im Moment spüren und genießen kann. Warum jemand glücklich ist, das ist sehr unterschiedlich. Übersetzerin Anna Taube dazu: „Auf der Suche nach dem großen Glück übersehen viele Menschen die kleinen Augenblicke, in denen das Glück zart aufblitzt. Beatrice Alemagna hat diese Momente aufgezeigt und in ihrem zauberhaften Bilderbuch festgehalten - obwohl das ja, wie sie schreibt, eigentlich gar nicht geht.“ Schon das stimmungsvolle Cover von Beatrice Alemagna lädt zum Staunen ein. Der Blick weithin zum Horizont scheint glücklich zu machen, aber auch Seilspringen oder eine Minute im Regen kann einen intensiven Moment erzeugen. Die Collageszenen bringen Erwachsene und Kinder miteinander ins Gespräch, und lassen sich sicher auch durch eigene Erfahrungen ergänzen.
Die haben auch die kanadische Künstlerin Julie Morstad zu Und heute? inspiriert. Denn ihre eigenen Kinder sind mehrfach in Streit darüber geraten, weil sie eigene Entscheidungen treffen wollten. Welches Bilderbuch sie lesen oder wer im Spaß die Kekse auf den Illustrationen essen darf? „Das hat mich interessiert, wie sich die Identität formt, durch all die Entscheidungen, die sie tagtäglich treffen, und für Erwachsene ist die Erkenntnis gleich mit dabei, diesen mehr Wertschätzung entgegenzubringen“ so Morstad. Diese Möglichkeiten hält sie in Ölkreide, Bleistift und Collage charmant und stilsicher auf Doppelseiten fest: Kleidung, Frisuren, Orte, Fortbewegungsmittel und Eissorten - so viel gibt es von jedem! Und falls es einen Tag gibt, an dem es regnet, hält das Kinderzimmer viele Spielmöglichkeiten bereit, zwischen den sich die Kinder heute nur noch entscheiden müssen.
Der erste Schritt vom Heute in ein anderes Morgen vollziehen die Kinder in dem originellen Bilderbuch der schwedischen Bilderbuch-künstlerin Pija Lindenbaum. „Das Entscheidende an dieser Geschichte ist, dass die Kinder nicht von außen, nicht von einer erwachsenen Person zu all ihren ersten Schritten motiviert werden, sondern dass die Entscheidung, sich gegen die Umstände aufzulehnen, ganz aus ihnen selbst heraus kommt,“ so Übersetzerin Jana Hemer dazu. Und tatsächlich geht genau davon eine enorme Kraft aus, die lange nachhallt. Die Kinder leben in zwei Gruppen getrennt in den hohen Bergen, und werden geleitet von der Schäferin, die alles bestimmt. Aber es geht ungerecht zu. Das wird den Primeln irgendwann klar und sie initiieren einen folgenreichen Rollentausch. „Wir werden uns eine eigene Wohnung suchen, in der wir selbst die Bestimmer sind.“ So ist es zu lesen und eindrücklich zu sehen. Ein erster Schritt in die Freiheit und ins Erwachsensein.
„Welches Kind hat nicht schon festgestellt, dass Erwachsene so viel mehr dürfen als Kinder ,und sich deshalb gewünscht, ganz schnell groß zu werden. Aber Anna Fiske zeigt auch, dass Erwachsene nicht immer im Vorteil sind, weil Kinder Sachen können, die Erwachsene nicht mehr hinkriegen“, so Übersetzerin Ina Kronenberger. In Wie ist es eigentlich, erwachsen zu sein? gelingt es der norwegischen Autorin bereits zum fünften Mal einen vielseitigen und überraschenden Blick auf ein Thema zu werfen. Dabei sind die schrägen und intensiven Illustrationen ein echter Blickfang. Mit Humor und anregenden Fragen stellt Fiske mit Leichtigkeit Nähe her, gibt Kindern einen aufschlussreichen Einblick und Erwachsene einen lohnenden Gesprächseinstieg. Auch Berufe - Malerin, Erzieher oder Lokführerin - werden vorgestellt, und die Notwendigkeit, als Erwachsener sein eigenes Geld zu verdienen, auf mehreren Seiten in den Blick genommen.
Alla Hutnichenko und Julia Kolomoets nun fokussieren sich in ihrem Kindersachbuch von A bis Z auf das spannende Zukunftsthema Berufe. Manche Kinder sind sich erstaunlicherweise schon im Grundschulalter ganz sicher, was einmal ihr Ziel sein wird. Den Einstieg dazu bietet der Ich-Erzähler Juri in Ich werde mal … Lauter tolle Berufe mit Hilfe seiner Verwandtschaft. Denn die haben alle sehr interessante und vor allem ganz unterschiedliche Berufe gewählt. Von der Floristin über den Teeverkoster bis zur Hundetrainerin ist alles mit dabei. „Ich wollte als Kind Försterin werden. Das habe ich mir damals so vorgestellt: ich wohne in einem einsamen Haus, gehe jeden Tag in den Wald, kann mit Tieren und Pflanzen sprechen und die Natur genießen,“ so Übersetzerin Claudia Dathe. Anregend sind auch die Illustrationen, die auf Doppelseiten noch die jeweilige Berufsausrüstung präsentieren und neugierig auf die Zukunft machen.
Die Zukunft spielt auch in Von Ameise bis Wombat - Tierisch geniale Bautricks für unsere Zukunft eine Rolle, allerdings in ganz anderer Hinsicht. Was könnten sich die Menschen von den Tieren abschauen, um ihre Projekte besser umsetzen zu können? WWF-Pädagogin Christiane Dorion hat erstaunliche Vorbilder gesammelt und zeigt gemeinsam mit der koreanischen Illustratorin Yuji Yun, was alles möglich wäre. Unterteilt in die Kapitel Konstruktion, Materialien, Formen, Energie und Wasser folgen nachahmenswerte Beispiele von Tukan, Lotusblüte und Honigbiene. „Beim Erklären der wissenschaftlichen Aspekte habe ich darauf geachtet, auch humorvoll zu sein und hoffe sehr, dass alle zukünftigen Erfinder, Ingenieure und Wissenschaftler dazu angeregt werden, sich von der Natur inspirieren zu lassen,“ so die Autorin. Miesmuschel-Superkleber, Stachelsonnenschutz der Durian-Frucht oder der Sonnenschirm des Kap-Borstenhörnchens sind nur drei von zahlreichen hochinteressanten Exempeln.
Ein anderes, viel größeres Tier spielt eine tragende Rolle in den blühenden Zukunftsfantasien des Mädchens in Bette Westeras Bilderbuch Wenn ich groß bin, will ich Elefanten küssen. Ein zauberhaft gereimtes Gedicht hat die niederländische Autorin geschrieben, nachdem sie eine Aquarellzeichnung von Matthias De Leeuw geschickt bekommen hat, mit einem Mädchen, das von einem hohen Sprungbrett ins Schwimmbecken springt. Die großzügige Badelandschaft ist Schauplatz für das Gedankenspiel und bietet genug Raum für alle Ideen des Mädchens, die dort gemeinsam mit ihrer Mutter ist. Ebenso überbordend, leicht und farbenfroh sind die doppelseitigen Illustrationen, die von Spukschloss, über Tiger bis hin zum Nordpol alles anscheinend mühelos präsentieren können. Übersetzer Rolf Erdorf dazu: „ Als Zukunftsidee gefällt mir besonders die Szene mit dem Gummiboot im Hafen zwischen all den Containerschiffen und insgesamt, wie sich das Mädchen darauf freut, die große, bunte, lebendige Welt für sich zu entdecken und zu erkunden.“
So weiten alle hier vorstellten Werke den Horizont und bieten Kindern als auch Erwachsenen individuell ganz unterschiedliche Zugänge. Jüngere Menschen schauen vielleicht ein wenig über den altersgemäßen Tellerrand, und Erwachsene behalten sich entweder die Begeisterung aus der Kindheit oder hinterfragen möglicherweise ihre Vorurteile dieser teils unterschätzten Kunstsparte gegenüber.