Bilderbücher - nur "Kunst für Kinder"?
... oder Bilderbücher für erwachsene Illustrationsliebhaber und Buchsammler? Immer wieder erscheinen Bilderbücher, die eher für Erwachsene gedacht sind. Was sagen die Künstler selbst? An wen sind die Bilderbücher adressiert? Antje Ehmann hat sich umgeschaut und ist fündig geworden. Neun herausragende Beispiele aktueller, internationaler Illustrationskunst regen an, neu über diese Sparte nachzudenken.
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Antje Ehmann
Die Berliner Künstlerin Britta Teckentrup fällt einem sogleich ein, wenn es um Bilderbuchkunst für Erwachsene geht. Mehrfach hat sie bereits bewiesen, wie sie Kinder, aber bei zahlreichen Werken eben auch Erwachsene mit ihren sensiblen und tiefgründigen Illustrationen begeistern kann. Nun widmet sie sich in ihrem neuesten umfangreichen Bilderbuch Die Schaukel einem zeitlosen Ort, der sowohl Kindern als auch Erwachsenen Freude bereitet. Ähnlich wie ein alter Baum waren die beiden Schaukeln nebeneinander, und der Blick aufs Meer schon immer da. "Ich glaube, dass jede Altersgruppe das Buch aus einer anderen Perspektive lesen wird und andere Gefühle, Gedanken und Erinnerungen ausgelöst werden", so Teckentrup. Ihr Wunsch: "Dass in jeder Buchhandlung eine riesengroße Abteilung nur mit Bilderbüchern für Erwachsene wäre." Denn sie bedauert, dass das Bild und das Bilder lesen und fühlen ab einem gewissen Alter fast vollkommen aus den Büchern verschwindet und durch das Wort ersetzt wird.
Die Entenmama in Claude Dubois' neuestem Bilderbuch möchte endlich auch einmal Zeit für sich, um in ihrem Roman "Schrecken der Nacht" weiterzulesen. Aber es ist nicht im Traum daran zu denken. Denn die Entenkinder Nina, Nono und Pablo haben unentwegt Fragen und suchen und rufen Mami, Mami! Aber dann hat sie eine geniale Idee! Ein perfektes Beispiel dafür, wie Mehrfachadressierung funktioniert. Denn während Mütter das in sanften Aquarelltönen illustrierte Bilderbuch mit den quicklebendigen Küken vorlesen, werden sie sich vermutlich wiedererkennen und die zuhörenden Kinder sich selbst auch. "Mir war dabei wichtig, die Situationen humorvoll zu gestalten, damit Erwachsene und Kinder darüber lachen können und das beiden guttut", so die belgische Künstlerin. Ein Bilderbuch mitten aus dem trubeligen Familienalltag, ganz nebenbei erkenntnisreich und schon für kleine Kinder geeignet.
Eher für Erwachsene und Großeltern scheint das philosophische Sachbilderbuch Was ist ein Fluss? zu sein. Ganz neue Perspektiven und Gedankenanstöße hält man da großformatig in Händen. Denn Monika Vaicenaviciene hat einen besonderen Blick auf das faszinierende Sujet und lässt ganz neue Ideen zu. Ein Duft, ein geheimnisvoller Ort oder sogar ein Zuhause? Feinfühlig von Cornelia Boese aus dem Schwedischen übersetzt, die selbst mit ihrer Großmutter viel an Flüssen und Seen in Värmland gesessen hat. "Ich finde, dass eigentlich alle guten Bilderbücher Erwachsene glücklich machen können. Auf meinen Lesungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie auch stundenlang genussvoll zuhören können, gerade bei Märchen, Fabeln oder Natur. Diese Themen begeistern durch alle Altersgruppen hinweg", so die Übersetzerin. Und dass man hier die Stickvorlage der Oma, die in der Geschichte die Flüsse der Welt in eine fantasievolle Decke umgestaltet, gleich selbst sticken kann, ist eine wundervolle Zutat, die in Veranstaltungen eingebunden werden könnte.
Vom Fluss zum Meer ist manchmal kein weiter Schritt, und so geht es in dem reizvoll illustrierten Werk der peruanischen Autorin Micaela Chirif, die in diesem Sommer auch auf dem White Ravens Festival zu Gast sein wird, um Das Meer. Jochen Weber, Lektoratsleiter der Stiftung Internationale Jugendbibliothek, weiß, "dass in den spanischsprachigen Ländern keine so klare Trennlinie gezogen wird, es ganz selbstverständlich auch Bilderbücher für ältere Kinder gibt bzw. darüber hinaus die Grenzen des klassischen Bilderbuchalters oft ignoriert werden". Die Übersetzung der stimmungsvollen Prosagedichte ist dem versierten Übersetzer hervorragend gelungen. Umfassend und überraschend nähern sich die Zeilen diesem faszinierendem Sehnsuchtsort und Lebensraum aus ganz unterschiedlicher Perspektive. "Was ich beim Übersetzen immer tue: die Zeilen laut vorlesen, lang an einzelnen Worten feilen, die Ordnung der Worte ändern und über Sprechpausen und Satzzeichen nachdenken", ergänzt Weber noch.
Einar Turkowski ist mit seinen sorgfältig und genau gezeichneten schwarz-weiß Illustrationen Teil der aktuellen Ausstellung "SCHWARZ WEISS GRAU - Bilderbücher ohne Farben", die noch bis einschließlich 3. September 2023 auf Schloss Blutenberg zu sehen ist. In Pinewood Hill nimmt er den jugendlichen oder auch erwachsenen Betrachter mit durch die verschlungenen Pfade, die der Junge kurz nach dem Umzug mit seinem BMX-Rad erkundet. Im Querformat warten in insgesamt 17 Kapiteln je eine Art "Screenshot-Illustration". "Die Kunstform Film hat mich schon seit jeher fasziniert", so Turkowski, der in die mit Bleistift in zwei Härten und schwarzem Buntstift gezeichneten Szenen für Kenner etliche Filmzitate eingearbeitet hat. "Für mich stellen Bilderbücher für Erwachsene eher eine eigene Kunst- und Erzählform dar, die in Text und Bild eine perfekte Symbiose miteinander einzugehen versuchen", so der bereits mehrfach ausgezeichnete Künstler weiter.
Diese Art Symbiose ist Lynn Fulton und Felicita Sala in Sie erschuf ein Monster - Wie Mary Shelley Frankenstein erfand ebenfalls aufs Beste gelungen. Vor allem die Atmosphäre des historischen Schweizer Ambientes überträgt sich durch behutsame Farbwahl, Kostüme, passende Requisiten und den Schauplatz am Genfer See sofort auf die Betrachter. Geschickt und subtil, wie Sala schon auf dem Cover Viktor Frankensteins Monster platziert, und so für manche eventuell erst auf den zweiten Blick zu sehen. "Erwachsene werden Illustrationsdetails wahrnehmen, die Kindern vielleicht entgehen. Außerdem dürfte es für alle spannend sein, mehr über ihre Mutter, die Frauenrechtlerin Mary Wollestonecraft, zu erfahren sowie über die Entstehungsgeschichte der weltberühmten Figur, die vielen nur durch die Hollywoodverfilmung bekannt sein dürfte", so die Autorin. Kern der Geschichte sind für Lynn Fulton die Fragen "Wie lernen wir Vertrauen und Misstrauen, Liebe und Furcht?", seit sie selbst mit gerade mal zehn Jahren den Roman im elterlichen Buchregal entdeckt hat.
Immer sind es - neben Filmen, Gegenständen von Flohmärkten etc. - auch Menschen, die Katja Vermeire inspirieren, und so gibt es auch zu Wolke ein reales Vorbild - die Tochter einer Freundin. Auf Grundlage dieser Fotografien sind die illustrierten Szenen in Wolke träumt dann entstanden - Wolke an die Wand gelehnt, die Beine hochgelegt oder angelnd auf dem Tisch stehend. "Als Paul de Moor mir den Text gab, fand ich sofort, dass er mir viel Raum für Fantasie lassen würde", erinnert sich die niederländische Künstlerin. Der Verlag empfiehlt das Buch für den Einsatz im Kunstunterricht oder im Bereich der Kunstpädagogik. "Meiner Meinung nach ist das ein Bilderbuch für jedes Alter, denn wer kennt das nicht, Phasen des Alleinseins und der Isolation", so Vermeire weiter. Und tatsächlich gelingt es dem feinfühligen und geheimnisvollen Text im Zusammenspiel mit aufwendig hergestellten Drucken in unzähligen Weißtönen eine Zeit zu gestalten, die stillzustehen scheint. Man lässt sich bereitwillig auf das "weiße Land" ein, und vergisst alles um sich herum.
Auch Brian Lies vermag solche Situationen zu gestalten. Momente, in denen die Welt den Atem anhält. Hier ist es nun die Sterbesekunde seines besten Freundes, dem Hund. Wie er sich über den Hundekorb beugt, zeigt in seiner Körperhaltung den ganzen Schmerz. Ein Bilderbuch, das bestimmt schon Kindern zugänglich ist, das aber auch ideal für Trauergespräche mit Erwachsenen zu sein scheint. "Viele kommen gar nicht gut mit Verlusten zurecht, egal wie alt sie sind", so der amerikanische Illustrator und Autor. "Erwachsene denken, ein Bilderbuch ist zu simpel, aber nein, ganz im Gegenteil. Ich kenne etliche, die mir gesagt haben, dass es ihnen geholfen hat, zu weinen und zu trauern und sich so eine Möglichkeit geboten hat, ihren eigenen Verlust anders zu sehen." Denn in So groß wie der Himmel wird der Weg zum Neuanfang tatsächlich in Text und Bild derart künstlerisch gestaltet, dass es eine große Freude ist. Die Hauptfigur, der alte Fuchs mit der runden, kleinen Brille auf der Nase, kommt zurück ins Leben, und was ein riesengroßer Kürbis damit zu tun hat, erfährt man beim Anblick der satten, farbprächtigen Illustrationen.
Eher in zurückhaltenden Farben kommen beide Bilderbücher der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk daher. Dabei ist sie für den Text und Joanna Concejo für die raffinierten Illustrationen verantwortlich, die sich aus zahlreichen gezeichneten Fotografien zusammensetzen. Warum verblasst das Gesicht der Hauptfigur immer mehr? Nach Die verlorene Seele nun also mit Herr Unverwechselbar erneut ein Bilderbuch - vom Verlag als Geschenkbuch für jedes Alter klassifiziert. Wobei Übersetzer Lothar Quinkenstein, den vor allem der lediglich auf den ersten Blick schlichte Duktus der Geschichte interessiert hat, meint: "Die Verbindung von Text und Bild scheint mir auf universelle Weise den Bedürfnissen unserer Fantasie entgegenzukommen - altersunabhängig. Der Text ist sicher erst ab einem bestimmten Alter zu erfassen, doch zugleich können die Bilder auch für sich stehen und eine auf mehreren Ebenen stattfindende Rezeption ermöglichen."
So weiten alle hier vorstellten Werke den Horizont und bieten Kindern als auch Erwachsenen individuell ganz unterschiedliche Zugänge. Jüngere Menschen schauen vielleicht ein wenig über den altersgemäßen Tellerrand, und Erwachsene behalten sich entweder die Begeisterung aus der Kindheit oder hinterfragen möglicherweise ihre Vorurteile dieser teils unterschätzten Kunstsparte gegenüber.