Die Künstleranekdote 1760-1960
Wer eine Sammlung süffiger kleiner Geschichten rund um Künstlerpersönlichkeiten erwartet hat, wird von Werner Busch enttäuscht. Viel mehr geht der Kunsthistoriker der Wirkung und der Bedeutung von Anekdoten im Werk von sechs Malern nach, unter
anderem Thomas Gainsborough, Adolph Menzel und Mark Rothko, die unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen folgen. Busch unternimmt den gelungenen Versuch, sie mittels der Anekdote aufzuzeigen und dem Leser zu eröffnen. Dabei schreibt er dieser literarischen Form eine besondere Kraft zu: Die Anekdote "geht über das historisch Faktische hinaus, zeigt die verschwiegenen Brüche, hebt das Verdrängte aus dem Schutt der Geschichte wieder ans Licht und befördert so eine zweite Wahrheit, die die erste in Frage stellt". Der Autor verdeutlicht das unter anderem an den Holzstichen, die Adolph Menzel zu der berühmten "Geschichte Friedrichs des Großen" geschaffen hat. Eine Anekdote über den König gestaltet er zu einer starken Aussage nicht allein über Friedrich den Großen um, sondern auch über sich selbst. Bei zeitgenössischen Künstlern sieht Busch den umgekehrten Prozess. Hier ruft nicht die Anekdote ein Bild hervor, sondern das Bild schafft ein narratives Moment im Betrachter. So sollen, erläutert der Autor, die Farben auf den Bildern Mark Rothkos Erinnerungsmomente an eigene Gefühle und an Erlebtes erzeugen, das sich zu einer kurzen persönlichen Geschichte verdichtet, die der Künstler gar nicht kennen kann. Das Buch unternimmt den Versuch, die Wechselwirkungen zwischen Erzählung und Bild zu deuten. Bewusst wie unbewusst wahrgenommen, beeinflussen sie den Betrachter. Das Buch bietet dazu Anregungen, die beim nächsten Museumsbesuch nachwirken und neue Fragen zu einem Kunstwerk stellen lassen.
Alois Bierl
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Die Künstleranekdote 1760-1960
Werner Busch
C.H.Beck (2020)
303, [32] Seiten : Illustrationen (teilweise farbig)
fest geb.