Das Reich der Mitte

Als Ergebnis einer fundierten Recherchearbeit beschreibt Rutherford anhand der Geschicke seiner Figuren die Geschichte Chinas in der Zeit der Opiumkriege und des Untergangs der letzten Kaiserdynastie. Dazu bedient er sich sowohl der Perspektive der Kolonialherren in Gestalt seiner englischen Hauptfiguren, eines Kaufmanns und eines Missionars, als auch der unterschiedlichen Repräsentanten der chinesischen Bevölkerung - vom Schmuggler und Rebellen Nio, der der Minderheit der Hatta angehört, über den Lackmaler und Eunuchen Guanji bis zum Beamten Jiang Shi-Rong und dem Kaiserhof. - Der 74-jährige englische Autor (mit bürgerlichen Namen Francis Edward Wintle) hat episch inszenierte Werke bereits über Russland, Irland, London und New York ("Im Rausch der Freiheit", BP/mp 12/638) vorgelegt. Das jüngste Opus beweist seine spannende, vielschichtig und verständlich aufgebaute Erzählkunst, die unter deutschen Autoren schwer zu finden sein wird. Dass in der opulenten Erzählung auch Szenen auftauchen, die den Leser/-innen einiges zumuten (Kastration, Folter) gehört zum Strickmuster derartiger Historiengemälde. Vermutlich ist dem Hang zur historischen Genauigkeit auch die Vernachlässigung der introspektiven Seite der Figuren, wie auch des weiblichen Personals geschuldet. Man mag es für Klischees halten, wenn Konfuzius' Zitate, weibliche Fußabbindung, Eunuchentum und Opiumhöhlen auftauchen. Den Leser/-innen entspinnt sich darin umso farbiger das Portrait einer Zeit und eines Landes und hilft, etwa in der Beschreibung der Familienstrukturen und traditioneller Werte, auch das heutige China besser zu verstehen. Seit James Clavells China-Romanen dürfte kein westlicher Autor über China so farbig und spannend erzählt haben. Dass die Leser/-innen bei aller Fülle von Personal, Schauplätzen und Handlungssträngen immer Überblick bewahren und dem fesselnden Geschehen und Charakterzeichnung gut zu folgen vermögen, steigert den Unterhaltungswert dieses Buches zu einer nachdrücklichen Empfehlung für alle Bestände.