Der Fluss und das Meer

Natascha Wodin ist eine brillante Erzählerin. Wie sie sich aus ihrem Leben die Geschichten herausschneidet und zu wortgewaltigen Erzählungen verwandelt, ist zugleich höchst filigran in sozialen, emotionalen und psychologischen Dimensionen. Die 1945 Der Fluss und das Meer geborene Autorin kam nach dem Krieg als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter ins fränkische Fürth. Die Titelgeschichte des neuen Bandes, „Der Fluss und das Meer“, lässt das Asowsche Meer erzählen, von dem Wodins Mutter stammt. Es liegt bei Mariupol, einer mehrfach zerstörten Stadt, durch Revolution und Bürgerkrieg, durch Hitlers Truppen und schließlich, wie es heißt, durch „die Bomben eines wahnsinnigen russischen Hegemons“. Die Wellen dieses ukrainischen Meeres schlagen durch Raum und Zeit, bis zur überschwemmten Regnitz, in der sich Wodins Mutter 1956 ertränkte. Auch die anderen Geschichten durchbrechen ein lineares Verständnis von Leben, durchkreuzen Identitäten, fokussieren Angst und Sorge, Gewalt und Entfremdung. Das Schöne hat sich in einsame Gegenden in Mecklenburg oder in der Südpfalz zurückgezogen, es bedroht aber durch seine „zügellose Umarmung“. Ein solches Bild zeugt von der sprachlichen Finesse der Erzählungen. Die eindrucksvollste Geschichte ist sicherlich die mittlere: „Notturno“ erzählt von der Brieffreundschaft der Erzählerin mit einem hochbegabten entmündigten Psychiatriepatienten, der aus der Betreuungsfalle zu entkommen sucht. In einem Schubert-Stück spüren beide eine starke Verbindung, die aber nicht halten kann, und so verweigert auch diese Erzählung ein Happy End. Nachhaltig wirkende, dicht erzählte autofiktionale Geschichten.

Michael Braun

Michael Braun

rezensiert für den Borromäusverein.

Der Fluss und das Meer

Der Fluss und das Meer

Natascha Wodin
Rowohlt (2024)

189 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 617731
ISBN 978-3-498-00376-0
9783498003760
ca. 22,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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