opus 8
Es waren die Dichter des Barock, die den Menschen in der Natur entdeckten. Wie der Mensch in die Natur eindringt und irreversibel verändert, ist das Thema von heutigem nature writing. Christian Lehnert ist einer der wenigen Dichter, die die vermeintlich veraltete Naturauffassung im Zeichen des Anthropozän reformieren. Das gelingt durch die Versöhnung von Mystik und Neobarock. In Lehnerts neuem Lyrikband, der nach der Zählung seiner vorhergehenden Gedichtbücher „opus 8“ getauft wird, gelingt das auf schön- anspruchsvolle Weise. Die Wörter und Bilder in den Gedichten sind einfach, von biblischen und mystischen Schriften inspiriert. Ganz neuartig sind jedoch die sprachlichen Wahrnehmungen. So eingängig sie durch Reim und Rhythmus gemacht und durch Motivverflechtungen verbunden werden, so intensiv zeugen sie von Empathie für kleine Pflanzen und große Tiere, sprechen sie von den Bakterien, Viren, Sporen und Amöben, von Walen und dem „Tausendklagen“ der aufsteigenden Graugänse. Die Gedichte nennen die Erscheinungen und Heilkräfte der Dinge der uns umgebenden und von uns verletzbaren Natur, ihren Grund und ihr Werden zum Ruhme Gottes. An der Steilküste fällt dem Dichter an den zerriebenen Kreidefelsen und an den kippenden Bäumen „kein Vermissen“ auf, sondern das Schreien eines Möwenpaars. Ein anderes Gedicht feiert den „Glauben“ als ein Widerschein im Winterfenster, der den Glaubenden zum Funken eines fremden Lichts macht. Christian Lehnerts neue Gedichte stellen keine Fragen an die Natur, sondern antworten auf ihre Erscheinungen. „opus 8“ ist „Ein natürliches Buch“, wie es im Vorsatz des Bandes heißt. Anspruchsvolle und lohnende Lektüre.
Michael Braun
rezensiert für den Borromäusverein.
opus 8
Christian Lehnert
Suhrkamp (2022)
116 Seiten
fest geb.