Fahrplanmäßiger Aufenthalt

In vielen der hier versammelten Geschichten taucht das erzählende Autoren-Ich auf. Und dieses Ich erzählt nicht von sonderlich spannenden und dramatischen Alltagsereignissen. Von einem "fahrplanmäßigen Aufenthalt" des Zuges von Nürnberg nach Stuttgart Fahrplanmäßiger Aufenthalt ist in der Titelgeschichte die Rede. Auch wandert der Autor gerne, besucht Konzerte, trinkt Kaffee in einem kleinen Lokal, gärtnert auf dem Balkon. Aufregende Themen sind das alles nicht, aber müssen Erzählungen "aufregend" sein? Die Meisterschaft eines guten Schriftstellers zeigt sich doch gerade in seiner Aufmerksamkeit für kleinste Details am Rande des Alltags, in den scheinbar so langweiligen Momenten einer Reise, in den formellen Briefzustellungen der Behörde. Beim Herumschauen auf einem kleinen, verlassenen Provinzbahnhof während des fahrplanmäßigen Aufenthalts entdeckt er eine kleine Tafel, mit der an KZ-Häftlinge erinnert wird. Von diesem Bahnhof aus wurden sie auf den Todesmarsch nach Dachau geschickt. Wunderbar wie der Autor einen ganz normalen Sonntagabendspaziergang zum örtlichen Bahnhof schildert, als sei er unterwegs auf einer großen Weltreise. Geschichten weiß der Autor zu erzählen, die man gerne am Abend im Bett vor dem Einschlafen liest. Und das ist nicht als arrogante Kritik gemeint, sondern als ein großes Lob, für einen Autor, der meisterhaft große Themen in kleine, leicht geschriebene literarische Miniaturen zu übersetzen weiß.

Carl Wilhelm Macke

Carl Wilhelm Macke

rezensiert für den Sankt Michaelsbund.

Fahrplanmäßiger Aufenthalt

Fahrplanmäßiger Aufenthalt

Franz Hohler
Luchterhand (2020)

103 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 943301
ISBN 978-3-630-87639-9
9783630876399
ca. 18,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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