Der See
Ich-Erzählerin Chihiro, Bühnendesign-Studentin in Tokio, vermisst ihre Mutter, die kürzlich verstorben ist. Zu ihrem neuen Freund Nakajima, einem Genetiker, der gerade an seiner Doktorarbeit schreibt, hat sie ein zwiespältiges Verhältnis. Sie
spürt, dass er ein Geheimnis hat, und vermutet ein Problem in der Vergangenheit. Zögerlich nimmt Nakajima sie mit an den See, an dem er früher mit seiner Mutter gelebt hatte. Dort treffen sie Freunde aus seiner Kindheit, das Zwergengeschwisterpaar Mino und Chii. - Die japanische Autorin Banana Yoshimoto (Jg. 1964) hat es mit zahlreichen Büchern auch außerhalb Japans zu Bekanntheit gebracht (zuletzt "Ihre Nacht", BP/mp 13/403). Ihr Schreibstil ist poetisch, entschleunigend. Vieles spielt sich in Chihiros Gedankenwelt ab. Sie beobachtet ihre Mitmenschen genau und stellt Vermutungen über ihre Beweggründe an. Der Wechsel vom erzählenden und reflektierenden Präteritum zu Präsenspassagen bewirkt eine Sogwirkung, die die Leser tief in die Gefühlswelt der Protagonistin eintauchen lässt. Dabei kommt der Roman mit seinen symbolischen Andeutungen aber leicht, geradezu schwebend daher. "Menschen reagieren nicht nur auf Worte ... Sich in die Augen schauen, Gerüche wahrnehmen, zusammen Tee trinken - solcherlei Momente gegenseitigen Vergewisserns sind unersetzlich" (S. 174). - Für Leser, die sich auf diese stillen Momente einlassen wollen, ein großer Gewinn. (Übers.: Thomas Eggenberg)
Karin Blank
rezensiert für den Borromäusverein.

Der See
Banana Yoshimoto
Diogenes (2014)
220 S.
fest geb.