Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Giovanna erlebt ihre Pubertät im Neapel der 90er Jahre. Eine unbedachte, zufällig aufgeschnappte Bemerkung bringt die behütete Welt der 13-Jährigen ins Wanken: Sie käme nun ganz nach seiner Schwester Vittoria, urteilt der sonst so liebevolle Vater. Mit dieser Schwester gibt es keinen Umgang, sie lebt in einem Viertel von Neapel ganz unten, rein topographisch und sozial. Nun will Giovanna ihre Tante kennenlernen. Die Energie, die von dieser schroffen dürren Frau ausgeht, fasziniert Giovanna, und auch die völlig andere Welt des Viertels Pascone, wo alle Dialekt sprechen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, ganz anders als zuhause, wo sich das Leben vor allem um Bücher dreht und man sich wohlkontrolliert äußert. Auch der eigene Vater scheint mit Tante Vittorias Augen betrachtet ein anderer zu sein und tatsächlich wird Giovanna bald ihren Blick auf den Vater ändern müssen. Mit der Trennung der Eltern steht sie vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens und muss nun ihre Pubertät bewältigen. Wie erwachsen werden, wenn die Welt der Erwachsenen so verlogen ist, wenn sie selber gar nicht klar kommen mit sich und ihren Beziehungen? Giovanna lässt nichts aus, sie durchlebt Phasen der Isolation, der Rebellion, die Abgrenzung von den Eltern könnte schroffer nicht sein. Sie hüllt sich in knallige Schminke und schwarze Klamotten, sucht erste sexuelle Erfahrungen mit all ihren Peinlichkeiten. Aber sie trifft auch Menschen, die sie respektiert, und eine wahre Lichtgestalt, Roberto, Giovannas erster großer Schwarm, mit dem sie leidenschaftlich über all das diskutieren kann, was sie beschäftigt. Das Evangelium ist eins der Themen zwischen den beiden. Und über allem schwebt die Aufforderung, durch Bildung die ständigen Bedrohungen Neapels hinter sich zu lassen: Armut, Willkür und Gewalt. Zu Recht ein Bestseller.
Gabie Hafner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Elena Ferrante ; aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp (2020)
414 Seiten
fest geb.