Der Märchenerzähler
Eher gegen ihren Willen verliebt sich die 17-jährige Anna in ihren Mitschüler Abel, den alle in der Klasse nur den polnischen Kurzwarenhändler nennen, weil er ganz offensichtlich mit Drogen dealt. Anna hat diesen Außenseiter nie wirklich wahrgenommen, bis sie eher zufällig miterlebt, dass sich hinter seiner finsteren Fassade ein sensibler und seltsam trauriger Mensch verbirgt. Nach und nach erfährt sie immer mehr Einzelheiten über ihn, über die Mutter, die sich nie kümmerte und vor Kurzem spurlos verschwand, über eine missbrauchte Kindheit, über ärmliche Lebensverhältnisse und den Versuch, die ständigen Geldprobleme durch die Zuwendungen fremder Männer in den Griff zu bekommen. Über allem schwebt Abels ständige Angst, seine kleine Schwester Micha an die Behörden zu verlieren. Für Micha würde Abel alles tun. Was das in letzter Konsequenz bedeutet, erfährt Anna erst, als es zu spät ist. Erst dann versteht sie, wie viel Wahrheit die wunderbaren Märchen enthalten, mit denen Abel seine Schwester und zunehmend auch sie verzaubert. Nicht nur im Märchen müssen die Bösen sterben. - Antonia Michaelis ist nun schon seit Jahren ein Garant für facettenreiche Themen und gut erzählte Geschichten für ganz verschiedene Altersstufen. Auch dieser vielschichtige Jugendroman, der Thriller, Liebesgeschichte und Sozialreport zugleich ist, überzeugt sowohl sprachlich als auch in seiner interessanten Verschränkung von realer und märchenhafter Ebene zumindest streckenweise. Allerdings will Michaelis dieses Mal eindeutig zu viel. Sie überlädt die verschachtelte Geschichte so mit Bildern und Bedeutung, dass die psychologische Glaubwürdigkeit der handelnden Personen einige Male Schaden nimmt. Das gilt v.a. für die Figur der Anna, deren liebevolles Einfühlungsvermögen in Abels zerstörte Seele nach ihrer Vergewaltigung durch ihn und angesichts seiner Morde allzu plakativ wirkt. Nicht das stärkste Buch der Autorin.
Angelika Rockenbach
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Der Märchenerzähler
Antonia Michaelis
Oetinger (2011)
446 S.
fest geb.