Der Vorweiner
Nach Naturkatastrophen und Bürgerkriegen (auch als Ergebnisse des bisherigen Lebensstils) ist Ende des 21. Jh. vom Europa, so wie wir es kennen, wenig übriggeblieben. Selbst die Schweiz verelendet, denn das Gold der Eidgenossen verrottet binnen kurzer Zeit. Wie eine Trutzburg hat sich „Resteuropa“ auf einen gigantischen Betonblock retten können, die Grenzen sind bestens gesichert. Denn hier sammeln sich Flüchtlinge aus allen Himmelsrichtungen und erbitten Einlass. Inzwischen sind solche „Ausländer“ gesucht, denn als „Vorweiner“ übernehmen sie Trauerarbeit, wenn es darum geht, den Tod von Freunden und Verwandten zu beweinen. In erster Linie aber bereiten sich die Vorweiner auf den Tag X vor, an dem „ihr Mensch“ aus Resteuropa stirbt. Trauer und Tod werden in der Gesellschaft – ebenso wie die (durchweg negativen) Nachrichten – weitgehend ausgeblendet, es gilt, die Contenance zu wahren. Bestattungen finden recht anonym statt: „Zerstreuungsfeiern“ kann man online zusehen, das Zer- bzw. Verstreuen der Asche der Verstorbenen allerdings ist ein lästiger Akt. Dabei wird viel gestorben, die „Trauergastarbeiter“ haben also viel zu tun. Was ist Bov Bjergs Roman nun: düstere Science-Fiction, Dystopie oder Satire auf eine weitgehend emotionslose Gesellschaft? Schauspielerin Nina Kunzendorf liest die Vorlage ungekürzt, man muss sich auf die Lesung und den Inhalt einlassen (wollen). Manches verstört oder kratzt an den Grenzen des Geschmacks, wenn es z.B. um schockierende Fake-News und deren Präsentation in den Medien geht. Bjergs Wortwitz ist bemerkenswert und so mangelt es nicht an Pointen. Ein Hörbuch für aufgeschlossene und neugierige Liebhaber:innen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur bzw. ausgebaute Bestände in größeren Büchereien.
Felix Stenert
rezensiert für den Borromäusverein.
Der Vorweiner
Bov Bjerg ; gelesen von Nina Kunzendorf
Hörbuch Hamburg (2023)
1 mp3-CD (circa 310 min)
mp3-CD