Schaut, wie wir tanzen
Wegen der Studentenunruhen 1968 in Frankreich kehrt Aischa Belhaj kurz vor ihren Schlussprüfungen als Medizinstudentin von Straßburg in ihre Heimatstadt Meknes in Marokko zurück. Da ihr Vater als Farmer recht erfolgreich war, gehört ihre Familie zur oberen Mittelschicht. Der Gegensatz arme Landbevölkerung gegen französisch orientierte höhere Schichten wird nahezu in jeder Szene deutlich. Aischa kann mit Gleichaltrigen ausgehen und feiern, während ihre Mutter, eine Elsässerin, traditionell lebenden Menschen eine medizinische Grundversorgung zu geben versucht. Die Epoche ist in Marokko unruhig; einerseits versucht man die maghrebinischen Werte - auch durch Geheimdienstaktivitäten wie von Aischas Onkel - zu erhalten, andererseits schwappen die Entwicklungen aus Frankreich ins Land. Aischa lernt einen eher marxistisch orientierten Mann kennen, der sich wenig später als Universitätslehrer langsam in die Anforderungen des Staatsdienstes fügt. - Die großen Umbrüche, auch bedingt durch die Loslösung aus dem französischen Protektorat, berühren Aischas Leben nur am Rande. Sie bleibt eine Rückkehrerin in angestammte Lebensweisen, die in deutlichem Widerspruch zu ihren Erfahrungen in Frankreich stehen. Am auffälligsten wird das in den Szenen ihrer Hochzeit. Waren die späten 60er/70er Jahre für das nordafrikanische Land und seine Bewohner ein Fortschritt zur eigenen Identität oder ein Rückschritt in überwunden geglaubte Traditionen? Diese Frage drängt sich während der Lektüre immer wieder auf.
Pauline Lindner
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Schaut, wie wir tanzen
Leïla Slimani ; aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand (2022)
379 Seiten
fest geb.