Das Mädchen mit dem Fingerhut
Ein sechsjähriges Mädchen wird tagsüber von ihrem Onkel in einen Laden geschickt, um sich dort im Warmen aufzuhalten. Er hatte ihr eingeschärft, kein Wort zu sagen. Und tatsächlich: der Ladenbesitzer hat Mitleid mit ihr und gibt ihr zu essen. Das geht so einige Tage, doch eines Abends holt sie der Onkel nicht ab. Sie schläft in einem Müllcontainer, wird aufgegriffen und in ein Kinderheim gebracht, von wo sie nachts mit zwei Jungen abhaut. Nur der Ältere spricht ihre Sprache. Sie nennen sie Yiza. Nach einem Tumult mit der Polizei gehen die beiden Jüngeren alleine weg und richten sich in einem Gartenhaus ein. Yiza hustet und hat Fieber. Fürsorglich kümmert sich Arian um sie. Es ist anrührend zu lesen, wie sie sich auch ohne Worte verstehen. Arian erbettelt Aspirin und stiehlt Essen. Als er am dritten Tag Yiza auf den Armen einer Frau findet, rennt er weg. Kurz vor dem Ende kippt der Roman fast ins grotesk Märchenhafte. Die Frau badet Yiza und pflegt sie gesund. Und sie sagt: "Dann lernst du meine Sprache. Dann leben wir zusammen. Du wirst sehen" (S. 127). Die vage an Hänsel und Gretel erinnernde Geschichte ist lakonisch erzählt, bewegend und überhaupt nicht gefühlsduselig, und passt hervorragend in unsere Zeit der Flüchtlingsströme.
Karin Blank
rezensiert für den Borromäusverein.
Das Mädchen mit dem Fingerhut
Michael Köhlmeier
Hanser (2016)
139 S.
fest geb.