Deutscher Buchpreis 2023

Spiegel der politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart

Buchpreisträger Tonio Schachinger. Foto: © Christof Jakob

Teaser-Video „Echtzeitalter“

Tonio Schachinger wurde mit dem Deutschen Buchpreis für seinen Roman „Echtzeitalter“ ausgezeichnet.

Auf den ersten Blick, so die Jury, handle es sich um einen Schulroman. Auf den zweiten jedoch sei er viel mehr als das:

„ein Gesellschaftsroman, der das Aufwachsen seines Helden Till an einer Wiener Eliteeinrichtung beschreibt, an der die künftigen Leistungsträger*innen mit reaktionärem Drill und bildungsbürgerlichen Idealen aufs Leben vorbereitet werden. Aus dieser repressiven Umgebung, verkörpert durch den mephistophelischen Lehrer Dolinar, flüchtet sich Till in die Welt des Gaming. Mit feinsinniger Ironie spiegelt Schachinger die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart: Aus gebildeten Zöglingen spricht die rohe Gewalt. Die Welt der Computerspiele bietet einen Ort der Fantasie und Freiheit. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemäße Weise verhandelt der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur.“

Geboren 1992 in Neu Delhi, aufgewachsen in Wien und Nicaragua, studierte Schachinger Germanistik und Sprachkunst in Wien und debütierte 2019 mit „Nicht wie ihr“ und landete mit dem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019.

Der Roman des Jahres

Echtzeitalter

Wie ergeht es einem Jugendlichen aus einer durchschnittlichen Familie an der privaten Wiener Eliteschule Marianum? Diejenigen, die später Anwälte, Ärzte oder Wirtschaftsbosse werden, finden sie im Nachhinein noch cool – der Romanheld Till allerdings Echtzeitalter meint im Schlusssatz des Romans: "Es war die Hölle", trotz schönbrunngelber Fassade, prunkvollen Räumen und einem riesigen Park. Besonders der Klassenlehrer Dolinar ist ein gefürchteter Despot, seine Pädagogik besteht aus Drill, Strafen, Angstmacherei, Demütigungen und Schikanen. Seine Unterrichtslektüre in Deutsch besteht nur aus Reclam-Heften und niemals aus Literatur des 20. Jh. Diese Schule ist nichts für Till, er strauchelt in jedem Schuljahr. Er flüchtet und beschäftigt sich parallel mit dem Strategiespiel "Age of Empires 2". Bald zählt der 15-Jährige zu den besten Gamern weltweit. Seine Freundin Feli "rächt" sich an der Schule, indem sie sehr erfolgreich kritische Geschichten über das "Marianum" veröffentlicht. – An Tonio Schachingers Roman ist zu erkennen, wie vermeintliche Teenager-Eliteschüler in die moderne Gesellschaft hineinsozialisiert werden. Schachinger hat selbst eine solche Schule erlebt (und erlitten?), die ihm als Vorbild für das fiktive "Marianum" diente. "Echtzeitalter" ist literarisch und inhaltlich hervorragend. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2023.

Berthold Schäffner

Berthold Schäffner

rezensiert für den Borromäusverein.

Echtzeitalter

Echtzeitalter

Tonio Schachinger
Rowohlt (2023)

364 Seiten
fest geb.

MedienNr.: 614861
ISBN 978-3-498-00317-3
9783498003173
ca. 24,00 € Preis ohne Gewähr
Systematik: SL
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