Mit allen Sinnen
Wie wunderbar ist es, die Welt zu erfahren: zu tasten, zu riechen, zu schmecken, zu hören und zu sehen. Wie zeitgenössische Autoren und Illustratoren dieses Thema für Kinder künstlerisch zugänglich machen, zeigt die folgende Auswahl an aktuellen Werken - vom Pappbilderbuch bis zum Sachbuch und mit allen Sinnen zu begreifen. Antje Ehmann hat sich auf die Suche gemacht und sieben Titel ausgewählt:
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Antje Ehmann
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„Kinder nehmen von Geburt an ihre Umwelt bewusst und unbewusst mit den Sinnen wahr. Diese Reize werden im Gehirn geordnet, miteinander verknüpft und gespeichert. Das ist die Grundlage, um Neues zu erfahren und Schritt für Schritt Neues zu erlernen. Je mehr Sinne angesprochen werden, desto intensiver ist die Verknüpfung im Gehirn und desto schneller und besser versteht das Kind die Welt um sich herum,“ so Pappbilderbuchlektorin Regina Köhler. In Sehen, Tasten, Fühlen - Mein großes Spielbuch für die Sinne wird das überzeugend umgesetzt. Kinder können hier schon die Buchstaben auf dem Cover tasten und die Abdrücke der bunten Fingerfarbhände auch spüren. Schlägt man die erste Seite auf, geht es ebenso farbenfroh weiter. Dann können Kinder Regentropfen fühlen, trommeln und verschiedene Formen entdecken. Ein Xylofon lädt zum Geräusche machen und zum Hören ein.
Für etwas ältere Kinder ist Wir bauen eine Hütte! und es konzentriert sich genau auf diesen Sinn, den Hörsinn. Gitte Spee ist vielen durch die Kinderbücher von Kommissar Gordon bekannt. Ihre zarte, feinfühlige und humorvolle Art zu illustrieren, passt wunderbar zu der Geschichte von Bernadette Vermeij, die unbedingt ein Bilderbuch machen wollte, um Kindern mit Hörproblemen eine Möglichkeit zu geben, über ihre Sinneseinschränkung zu reden. Die Autorin arbeitet bei der niederländischen Stiftung für taube und schwerhörige Kinder in Amsterdam. Hauptfigur Häschen hat zwar wunderbar schöne und weiche Ohren, aber leider hört es nicht gut. Wie soll das Vorhaben mit dem Hüttebau da nur klappen? „Es gibt so viele Wege, miteinander zu kommunizieren. Eine Umarmung, ein kleines Geschenk, eine Geste oder ein Lächeln - und dann schaffen sie es doch, die Hütte gemeinsam zu bauen,“ so Spee. Eine Herzensangelegenheit, dieses Bilderbuch und die charmanten Tierzeichnungen von ihr ein großes Glück!
Ebenfalls Glück mit der Illustratorin hatte Angela Bernhardt in ihren Kinderbuch Das Rätsel um die rosa Box. Auch hier geht es um das Hören. Kurzweilig und mit lebendigen Dialogen taucht man in die Geschichte ein. Mit von der Partie sind das Mädchen Nanna, Tante Lotte und Milan. Was hat es nur mit der rosa Musikbox auf sich? Julia Dürr konzentriert sich in ihren zahlreichen Zeichnungen nur auf rosé und braun als Farbtöne und gestaltet auf der letzten Seite „Danke, bitte und viel Glück!“ in Gebärdensprache. Denn Milan hat eine gehörlose Schwester. Die Autorin dazu: „Die Gebärden in Bilder zu fassen war nicht ganz einfach, weil die ja auf dem Papier nur zweidimensional erscheinen. Wichtig waren die Richtungspfeile. Da konnte Herr Zante vom Deutschen Gehörlosenbund e.V. uns vor allem bei der letzten Gebärde unterstützen.“ Bernhardt schreibt als freie Autorin außerdem auch Filmbeschreibungen für Blinde. Ein Hilfsmittel für sehbehinderte Menschen, um dem Geschehen im Film folgen zu können.
Diesen sehr wichtigen Sinn, den Sehsinn stellen die folgenden zwei sehr unterschiedlichen Werke ins Zentrum ihrer Kunst. Einmal der berühmte Benjamin Lacombe, der bereits einige aufsehenerregende Bücher veröffentlicht hat, mit Malaga, die Blinde. Und das vielfach ausgezeichnete ukrainische Künstlerpaar Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw mit Sehen. Lacombe hat die schmerzliche Erfahrung selbst machen müssen, wie er eindrücklich im Nachwort schildert. „Das Augenlicht ist vielleicht der wichtigste unserer Sinne. Es stimmt, dass wenn einer der Sinne uns fehlt, andere die Lücke füllen und intensiver werden: Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken. Ich selbst habe vor drei Jahren die Erfahrung des Verlusts des Augenlichts, während mehrerer Stunden gemacht,“ so Lacombe, der in Paris für Kinder und Erwachsene arbeitet und mehr als vierzig Bücher veröffentlicht hat. Das macht die hochdramatische Erzählung von der blinden Artistin noch intensiver und lässt die Betrachter staunend zurück.
Das Staunen als Haltung durchzieht auch die philosophischen Sachbücher des ukrainischen Künstlerpaares. In der Jurybegründung zur Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises von Sehen heißt es „Das Aufsehen erregende Sachbuch ist Aufforderungsgrund und Ermutigung, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sich mit Fragen der eigenen Wahrnehmung zu beschäftigen.“ Das in vier Sonderfarben gedruckte stilsichere Werk ist bereits in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt worden. Das zeigt auch den universellen Charakter des Themas. Es geht um Spiegel, das Minenspiel des Gegenübers, um Zeichen und Symbole oder um Brillen, Kameras und optische Täuschungen. Das alles in einer so herausragenden und sorgfältigen Ausstattung, die beeindruckt.
Nicht weniger wichtig ist all das, was wir schmecken und riechen können. Und was wäre dafür besser geeignet als ein Kochbuch. Bei Heute kocht das kleine Känguru - Ein vegetarisches Jahres-Kochbuch für Kängurus und Kinder von Myriam Lang und Kathrin Schärer handelt es sich um eine Melange aus Bilder- und Kochbuch, klug kombiniert mit einer kulinarischen Reise durch das ganze Jahr. Die Schweizer Illustratorin brilliert wieder einmal mit der liebevollen Darstellung von Tieren, diesmal Familie Känguru und zeigt in jeder einzelnen Körperhaltung Gefühlsregungen. Rezepte wie Eis-Trösterchen oder grüne Pfannkuchen überraschen, und wie Onkel Igel und alle anderen gemeinsam einkaufen, kochen und aufräumen kann man sich wieder und wieder anschauen. Myriam Lang hat die Rezepte gesammelt und aufgeschrieben und bedankt sich herzlich „bei den Probeköchinnen Aurora, Flurina und Loriane und widmet diese Rezepte allen ess- und probierfreudigen Jungköchinnen.“
Erdbeeren und Himbeeren spielen auch im Kochbuch eine Rolle. In dem zauberhaften, atmosphärisch dichten Bilderbuch von Olivier de Solminihac und Stéphane Poulin ist es Ein Sommer voller Brombeeren, der nicht zu Ende gehen soll, wenn es nach dem kleinen Fuchs gehen würde. Der kanadische Illustrator nimmt uns mit zu den kratzigen, wild wuchernden Brombeerhecken und präsentiert die französische Landschaft dagegen weich in samtigen Ölfarben. Ein letzter Ausflug der drei, um den Abschied vom Ferienhaus etwas leichter und versöhnlicher zu gestalten. „Das Fuchskind möchte den Geschmack der Brombeere im Mund behalten und damit auch die Ferien möglichst lange nachklingen lassen. Vielleicht verkörpert das süß-saure der Brombeeren auch, was die Kinder in dem Moment empfinden: die Süße steht für das Erlebte, das Saure für die Traurigkeit, dass es vorbei ist,“ überlegt Übersetzerin Andrea Lüthi.
Dann fügt sie noch hinzu: „Schon als Kind hätte ich mir gewünscht, man könnte Düfte, Geräusche – einfach alle Eindrücke – in einem Glas sammeln und später wieder herausholen.“ Ein Wunsch, dem sich sicher viele anschließen können und ein Plädoyer dafür, das Leben möglichst mit allen Sinnen zu genießen.