Herkunft
Als Jugoslawe geboren flieht der junge Ich-Erzähler als Sohn eines Bosniers und einer muslimischen Mutter aus seiner zersplitterten Heimat nach Deutschland, wo er in Heidelberg landet. Das Einleben dort ist nicht frei von Demütigungen, Scham und der Sorge, nicht wirklich aufgenommen zu werden. Feindlich gesonnene Inländer verursachen Angst und machen den jungen Integrationswilligen erfinderisch, um sich zu assimilieren. Die qualifiziert ausgebildeten Eltern nehmen Hilfsjobs an, um sich über Wasser zu halten. Der literarisch sensible Junge tastet sich an die deutsche Sprache genauso vorsichtig heran wie an den Hort der deutschen Romantik, der Ausländern nichts Gutes verheißt, und verliebt sich in beide. Identität schafft beides: Das Wissen um die Fremdheit in einem Land und das sich Bemächtigen der fremden Sprache, wofür der Autor im Epilog ausdrücklich Eichendorff dankt. Die Rahmenhandlung erzählt von der im Land gebliebenen dementen Großmutter, die Erinnerungsquelle und Gedächtnisverlust zugleich ist. Das Widersprüchliche zieht sich als übergreifendes Motiv durch diese große autobiografische Erzählung, die am Ende noch ein interaktives Spiel für die Leser*innen bereithält. - Stanisic bedient sich der deutschen Sprache in Satzbau, Rhythmus, Wortwahl und Feinsinnigkeit virtuos. Das Grausame wie das Fröhliche vermag er spitzfindig und erhellend in Worte zu fassen, ohne dass man ein Rezept erkennen könnte - er beherrscht zu viele Register. Das Lesen ist wie eine äußerst anregende Unterhaltung mit einem geist- und witzreichen Gesprächspartner, dem es leichtfällt, über die Buchseiten hinweg Beziehung aufzubauen. Seine Sprache ist ein Fest. Großartig!
Christine Vornehm
rezensiert für den Sankt Michaelsbund.
Herkunft
Sasa Stanisic
Luchterhand (2019)
355 S.
fest geb.
Der Preisträger
Die Jury lobt, Saša Stanišić (sprich: Sascha Stanischich) sei „ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut. Unter jedem Satz dieses Romans wartet die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens ist. Verfügbar wird sie nur als Fragment, als Fiktion und als Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte. Der Autor adelt die Leser mit seiner großen Phantasie und entlässt sie aus den Konventionen der Chronologie, des Realismus und der formalen Eindeutigkeit.“
Saša Stanišic wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (BP 06/767) erschien 2006 und wurde in 31 Sprachen übersetzt. Für den Roman „Vor dem Fest“ (BP/mp 14/693) wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Stanišic lebt und arbeitet in Hamburg.
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